Es ist 12 Uhr, Vesperkirche in Nürnberg-Lichtenhof: Die Türe geht auf – und ich stehe noch an. »War doch klar, heute gibt’s gebratene Hähnchenkeule, und die zieht«, raunt mir eine Frau zu. Täglich gibt es eine Suppe, eines von zwei Hauptgerichten zur Wahl, eine Nachspeise, dazu Wasser an den Tischen und Kaffee und Tee, so viel man will, und das alles nur für einen Euro – das ist nicht nur günstig, das ist billig. Spenden kann man aber auch. Ich gebe vier Euro, die auch auf meinem Bon vermerkt sind. Das fröhliche »Dankeschön« der beiden Damen an der Kasse gibt’s gratis dazu. Es kommt von Herzen.
Anscheinend sind alle Ehrenamtlichen hier gut drauf. Jedenfalls verströmt das gesamte Helferteam eine unverschämt gute Laune. Das war schon am Eingang so, wo gleich zwei Personen mit einem »Schön, dass Sie da sind« grüßen. Die gute Stimmung steckt an. Schon in der Schlange, die sich einmal längs bis zum Altar, dann im Bogen nach rechts und bis nach vorne an die Ausgabestelle hinzieht – gut und gerne 50 Meter lang. Dazu spielt ein älterer Herr am Keyboard vor dem Altar Dinner-Musik. Genügend Zeit, das Warten mit einem Schwätzchen zu verbringen, und Unterhaltung hat man gleich.
Illustre Gespräche
»Ich versteh das nicht, dass die Leute alle wegen dem Fleisch kommen, ich hab mich auf die Tortellini gefreut«, sagt der Mann vor mir und verweist auf das ebenso erhältliche vegetarische Tagesgericht, das es zusätzlich täglich von 10.30 bis 15.30 Uhr hier gibt. Er sei Krankenpfleger, da sehe er täglich Menschen, die sich mit falscher Ernährung die Gesundheit verdorben haben, erklärt der 66-Jährige, dem man sein Alter weiß Gott nicht ansieht. »Liegt vielleicht an der fleischlosen Ernährung«, denke ich mir und hab schon fast ein schlechtes Gewissen, weil meine Gedanken um die Hähnchenkeule kreisen.
Doch auch bei den meisten der heute geschätzt 400 Besucher liegt eine solche auf dem Teller. Viele der Vesperkirchengäste können sich sicherlich so etwas nur selten oder gar nicht leisten. Zumindest macht der ein oder andere Besucher rein äußerlich diesen Eindruck. So wie die beiden Männer, deren Tisch, im Seitengang etwas versteckt, ich mit meinem Tablett ansteuere. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, frage ich und ernte nur einen raschen Blick und ein murrendes Nicken. Die beiden wollen ihre Ruhe haben.
Mit der Stille am Tisch ist es schnell vorbei, als sich Moni und ihre Freundin Carola zu uns setzen. Die beiden Rentnerinnen sind in bester Laune und plaudern munter drauf los. Schnell ist man beim »Du«. Als noch ihr Kumpel Rainer dazukommt, ist das Gespräch bereits voll im Gange. »Am Dienstag gab es zweimal Vegetarisches, da standen wir nicht so lange an«, meint Rainer. Moni erklärt, warum sie jede Woche kommt: Das gute Essen sei das eine. Viel wichtiger sei der alleine Lebenden aber, raus aus ihrer Wohnung und hier unter die Leute zu kommen. Ihr Sohn sei zwar derzeit zu Besuch, für den sei die Vesperkirche aber nichts. »Er geht auch sonst nicht rein, also braucht er auch nicht zum Essen hierherzukommen«, lacht sie.
Knochen für den Hund
Carola fragt noch an den Tischen herum, ob sie die leeren Knochen sammeln und für ihren Hund zu Hause mitnehmen darf. Sie steckt ein Dutzend in einen Beutel. Dann haben es die beiden Frauen plötzlich eilig: Um 13.30 Uhr beginnt die »Klangreise« oben im Gemeindezentrum. Die Meditationsstunde ist Teil des umfangreichen Begleitprogramms der Vesperkirche. Am Morgen war schon der Friseur da, dazu eine Näherin und ein Sozialberater, der hier regelmäßig Sprechstunden hält. Der Zeitplan hängt neben dem mit den Speisen. Seelsorge gibt’s von den anwesenden Geistlichen noch obendrauf, wenn gewünscht.
Doch manchmal reicht auch schon ein freundliches Lächeln wie das von Peter, weißhaarig und immer strahlend, der durch die Reihen wandert, um Fragen zu beantworten oder Umherirrenden einen Platz zuzuweisen. Emsig ist auch Erwin, der sofort sieht, wenn es wegen der Tabletts oder nicht abgeräumten Geschirrs an den Tischen zu eng wird. Und da ist auch Anna, eine reifere Dame mit nach wie vor tollen Haaren, die auch gerade ihren Mantel gegen die Schürze getauscht haben könnte und jetzt den Tisch abwischt. »Ich nehme mir gerne die Zeit, hier kann ich anderen direkt etwas Gutes tun«, sagt sie.
Mir wird klar: In der Vesperkirche sind alle gleich. Menschen aus verschiedensten Alltagswelten treffen sich hier auf Augenhöhe, essen miteinander, kommen ins Gespräch, schenken sich ein wenig Freude. »Und ein bisschen Kirche bleibt auch hängen«, meint Moni, bevor wir uns verabschieden. Vielleicht sehen wir uns nächste Woche ja wieder – ich werde da sein.