Neue Aktualität durch die Herbstsynode der bayerischen Kirche

Das Thema sexualisierte Gewalt wirbelt immer wieder Fragen nach Schutz- und Präventionskonzepten großer Institutionen auf. Nach der #MeToo-Debatte, einer Missbrauchsstudie der katholischen Kirche und dem Versprechen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für mehr Aufklärung, hat es die bayerische Landeskirche erneut auf ihre Tagesordnung gesetzt. Bei der Herbstsynode in Garmisch-Partenkirchen forderten Synodale und Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm eine neue Fachstelle, in der die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt sowie deren Verhinderung künftig gebündelt werden sollen. Zu den nächsten Schritten gehören auch eine externe Studie, die Analyse von Einzelfällen sowie die Aufdeckung von Strukturen, die sexuelle Übergriffe ermöglichen und deren Aufdeckung behindern.

Münchens Stadtdekanin Barbara Kittelberger ist eine der Frauen, die sich in der Landessynode dafür besonders stark machen. Sie betont, dass in der Kirche in den vergangenen Jahren schon eine ganze Menge vorangegangen ist. Für sie gehöre es aber zur gesellschaftlichen Verantwortung von Kirche, immer wieder zu überprüfen, an welchen Stellen die Institution vorbeugende Maßnahmen vorantreiben muss und den Menschen helfen kann, die zu Opfern geworden sind.

"Es ist an der Zeit zu untersuchen, wie Präventionsarbeit ausgestattet ist und ob wir sie uns wirklich in allen Bereichen der Landeskirche auf die Fahne schreiben. Bis in unsere Kirchengemeinden und Einrichtungen müssen wir nochmal deutlich machen, wie notwendig es ist, dieses Thema anzugehen - und es nicht verschämt unter den Teppich zu kehren." (Barbara Kittelberger)

Auch Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm plädierte bei der Herbsttagung dafür, Prävention und Aufklärung ernst zu nehmen. Er versicherte, Missbrauchsfälle würden auf allen kirchlichen Ebenen umfassend aufgearbeitet. Straftäter verdienten nicht den Schutz der Gemeinschaft und "sexualisierte Gewalt darf kein Tabuthema sein". Denn derartige Grenzverletzungen fügten Menschen "unfassbares Leid" zu, traumatisierten und stigmatisierten sie für ihr ganzes Leben.

Bedford-Strohm Herbstsynode 2018 sexualisierte Gewalt in der Kirche

Bisher ist eine zweistellige Zahl von Missbrauchsfällen in der bayerischen Kirche bekannt. Auf EKD-Ebene ist sie dreistellig, aber auch das sei vermutlich nur die Spitze des Eisbergs, wie es bei der EKD-Synode Anfang November hieß. Verena Osgyan, Stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen und berufenes Mitglied der bayerischen Landessynode, geht ebenfalls davon aus, dass das Dunkelfeld noch deutlich weiter ist.

"Wir wissen nur von denen, die ihren Fall durchgekämpft haben, das sind 25. Da ist natürlich die Frage, wie viele Menschen mit Fällen unterschiedlichster Tragweiten sich noch nicht gemeldet haben." (Verena Osgyan)

Das Problem: Viele Betroffene suchten erst Jahrzehnte später Hilfe – dies betreffe jedoch nicht nur die evangelische Landeskirche, sagt Verena Osgyan, sondern im Prinzip alle Organisationen im staatlichen und privaten Bereich. Besonders Kirche dürfe keine Angst haben, dass die Aufklärung von Fällen sexualisierter Gewalt negativ auf sie zurückfallen könnte, wie die Politikerin im Video erläutert:

 

Ursula Werner machen diese Vorsätze der Kirche Hoffnung, denn sie ist eine der Betroffenen. Jahrelang hat sie geschwiegen und sich dafür geschämt, was ihr ein Pfarrer in den 60ern in ihrer Zeit als Konfirmandin angetan hat. Heute sprudelt es regelrecht aus ihr heraus. Ihren Namen nennt sie ganz bewusst, sagt sie, um anderen Betroffenen Mut zu machen. Ihre Stimme ist fest, taucht in Zeitungsartikeln und Reportagen auf. Die sozialen Medien nutzt sie, um zu zeigen, wie sehr es ihr geholfen hat, sich an die Öffentlichkeit zu trauen.

"Momentan gebe ich mich so oft wie möglich als Betroffene zu erkennen, denn jetzt ist ein Zeitfenster, in dem alle hellhörig sind." (Ursula Werner)

Mit einer guten Betreuung und Menschen, die mit aufrichtigem Interesse zuhören, kann man es schaffen, sagt Ursula Werner. Die Sensibilität gegenüber den Betroffenen und ihren teils unaussprechbaren Erinnerungen sei dafür die Grundlage.

 

Was es bereits gibt: Die Ansprechstelle im Landeskirchenamt

1999 richtete die evangelische Landeskirche in ihrer Münchner Zentrale eine Anlaufstelle für Opfer sexualisierter Gewalt ein. Als 2010 Betroffene von Missbrauchsfällen in kirchlichen Heimen an die Öffentlichkeit traten, beschloss der Landeskirchenrat Standards für den Umgang mit Vorkommnissen. Dazu gehört, dass bei begründetem Verdacht Strafanzeige gegen Täter gestellt wird, auch wenn die Taten nach dem Strafgesetzbuch verjährt sind.

2017 wurde Kirchenrätin Barbara Pühl Beauftragte für Chancengerechtigkeit und Leiterin der Ansprechstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt. Mit zwei weiteren Mitarbeitenden im Landeskirchenamt berät sie Betroffene hinsichtlich ihrer Handlungsmöglichkeiten. In akuten Fällen kann sie eine Krisenintervention veranlassen, das heißt Therapiekosten für sechs Stunden finanzieren und dem oder der Betroffenen eine unabhängige Rechtsberatung zur Seite stellen.

Neben Pühls Team gibt es noch eine halbe Stelle für Prävention, die gerade im Aufbau ist sowie eine unabhängige Kommission, die über Hilfeleistungen für Betroffene entscheidet, deren Fälle strafrechtlich und zivilrechtlich verjährt sind. Bislang waren die Bereiche Ansprechstelle und Prävention in verschiedenen Abteilungen angesiedelt, sagt die Kirchenrätin. Ihr Ziel sei es deshalb, in einer neuen Fachstelle für den Umgang mit sexualisierter Gewalt, alles miteinander zu verknüpfen.Die Fachstelle soll abteilungsunabhängig beim Landesbischof angesiedelt sein.

Aber wer ist die Zielgruppe der Ansprechstelle? Ist ein sexistischer Spruch am Arbeitsplatz Grund genug, um sie aufzusuchen?

 

Ab wann beginnt man von Gewalt zu sprechen?

Stadtdekanin Kittelberger spricht im Video über verschiedene Formen von Gewalt und darüber, was Gesellschaft und Kirche über persönliche Freiräume lernen müssen:

Bis Ursula Werner verstand, was mit ihr geschah, fühlte sie sich bereits vom Verderben wie aufgesogen. Die Überzeugung, nur noch sich selbst zu haben, breitete sich in ihr aus, erzählt sie. Und dass sie realisiert habe, dass ihr Leben nun für immer anders sein würde, aber niemand außer ihr dies bemerkte. In der Schule versuchte sie, ihre zweite Identität von sich abzuspalten. Doch der Kontakt zu Freunden, denen sie sich nicht offenbaren konnte, fiel ihr immer schwerer und sie zog sich zurück.

Als ihr der Pfarrer, der sie so oft missbraucht hatte, bei der Konfirmation das erste Abendmahl reichte, hörte Ursula Werner auf zu glauben, sagt sie. "In dem Moment war mir klar, dass Jesus mich verlassen hat. Und dass es so jemanden wie mich nicht in der Kirche geben darf." Sie trat aus.

Erst ihr Mann konnte Ursula Werner so viel Sicherheit vermitteln, dass sie ihm ihre Bürde anvertraute.

"Hätte mein Mann damals gesagt, er kommt damit nicht zurecht, und hätte er mich alleine gelassen - ich hätte nie wieder einem Menschen davon erzählt", sagt sie.

"Die Sexualität ist das Intimste eines Menschen und in diesen Bereich greift sexualisierte Gewalt ein", erklärt Kirchenrätin Barbara Pühl. "Das ist nichts, was passiert und was man wieder vergisst, sondern es begleitet Betroffene ein Leben lang und kann als Re-Traumatisierung auch immer wieder aufbrechen." Die Verantwortung der Kirche sei es darum, Betroffene langfristig zu hören, zu begleiten und zu unterstützen. Und Menschen dafür zu sensibilisieren hinzuschauen, wo etwas auffällig ist und zu handeln anstatt wegzusehen. Jedem Einzelnen rät Barbara Pühl, auf seine persönlichen Grenzen zu achten und "Nein" zu sagen, wie sie im Video ausführt:

Weil Kinder und Jugendliche zu diesem "Nein" aus unterschiedlichen Gründen oft nicht in der Lage sind, müssen sie anders geschützt werden, sagt Barbara Pühl. Dies könne durch entsprechende Strukturen und Sensibilisierung von Mitarbeitenden erfolgen.

 

Wer Unrecht erfahren hat, steht vor der nächsten Frage: Wem vertraue ich mich an?

Stadtdekanin Kittelberger fordert eine externe Ansprechstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt: "Der Ort, an dem Menschen sich offenbaren können, muss getrennt sein von Dienstgebäuden der Kirche", sagt sie. Bis hin zur Telefonnummer müsse man auf Details achten, die die Hemmschwellen für Betroffene zu groß erscheinen lassen könnten. Zudem müsse es männliche und weibliche Ansprechpartner geben, denn auch wenn der Großteil sexualisierter Gewalt von Männern ausgeht, dürfe Gewalt von Frauen nicht ausgeblendet werden.

Stehen die standardisierten Abläufe fest, müssen diese klar auf allen kirchlichen Ebenen kommuniziert werden, so Kittelberger. Es scheint ihr sinnvoll, Ansprechpartner in Gemeinden und Dekanaten zu haben, um Betroffene bei den ersten Schritten zu unterstützen:

Barbara Kittelberger ist sich sicher, dass es noch viele weitere Stellschrauben zu bedenken gibt, um Betroffenen den Weg hin zu Hilfsangeboten zu ermöglichen und zu ebnen. Darum hofft sie auf den Rat von denen, die zu Opfern geworden sind und sich bereit fühlen davon zu erzählen, wo die schwierigsten Hürden auf der Suche nach Beistand und Ansprechpartnern liegen. Menschen wie Ursula Werner, die Stärke daraus ziehen, andere stark zu machen. Menschen, die an den emotionalen und seelischen Verletzungen nicht zerbrochen sind.

Ursula Werner hat gelernt, ihr Opfer-Ich von sich zu lösen. Wenn sie ganz bei sich ist, empfindet sie Dankbarkeit für die Entwicklung, die ihr Leben als Erwachsene genommen hat: für die Familie, die sie mit ihrem Mann gegründet hat, für deren Zuspruch und die seelsorgerliche Begleitung der evangelischen Kirche. Viele Mitarbeiter in Bayern und auf EKD-Ebene hätten sich intensiv für Gerechtigkeit in ihrem Fall eingesetzt, sagt sie. Und sie seien ihr, was ihr besonders viel bedeutet, mit großer Empathie begegnet.

Als ihr Landesbischof Bedford-Strohm Jahrzehnte nach ihrer Konfirmation das Abendmahl gibt, fühlt sie etwas in sich aufbrechen.

Zitat Ursula Werner Kirche Umgang mit Betroffenen sexualisierter Gewalt

Was muss also getan werden?

"Betroffene brauchen Hilfe bei der Aufarbeitung, psychosoziale Betreuung, unter Umständen eine Traumatherapie", sagt Verena Osgyan. Natürlich könne eine finanzielle Entschädigung nichts gut machen, sei aber ein Zeichen für die Betroffenen. Bei Bekanntwerden solcher Fälle verfolge die evangelische Landeskirche bereits seit geraumer Zeit eine Null-Toleranz-Strategie, beispielsweise indem sofort strafrechtliche und nicht nur disziplinarrechtliche Konsequenzen erfolgen – im Präventionsbereich hingegen müsse der Blick noch sehr geweitet werden. Kinder, Jugendliche und junge Frauen zu stärken beginne bereits im Bildungsbereich, in Kindertagesstätten und in Schulen, so die Landtagsabgeordnete. Osgyan sieht eine pädagogische Verantwortung, der sich nicht nur der kirchliche Bereich, sondern auch das staatliche Schul- und Bildungswesen wesentlich mehr stellen muss.

Für die Präventionsarbeit in der Kirche wurden auf EKD-Ebene Module entwickelt, die nun auch in den Landeskirchen verankert werden sollen. Diese möchte Barbara Pühl mit den Konzepten verknüpfen, die in der bayerischen Kirche bereits bestehen, etwa in der Jugendarbeit. Zusätzlich zu zwei EKD-Studien hat auch der Landeskirchenrat in Bayern beschlossen, eine ergänzende Studie in Auftrag zu geben. "Gute Prävention kann nur dann gelingen wenn wir Fälle, die es bei uns gab, systematisch aufarbeiten, sagen, wo die Schwächen in unseren Strukturen sind, und darauf Schutzkonzepte und Prävention aufbauen", sagt Barbara Pühl.

Eine ausgelagerte Ansprechstelle ist für Pühl denkbar, sagt sie. Allerdings macht sie im Alltag die Erfahrung, dass Betroffene ganz ausdrücklich der Kirche mitteilen wollen, was ihnen widerfahren ist.

"Wer an eine externe Stelle herantritt, käme in einem zweiten Schritt wieder an die interne Stelle. Und ihre Geschichte mehrmals zu erzählen, fällt vielen Betroffenen sehr schwer. Darum müssen wir auch eine interne Ansprechstelle haben, die signalisiert: Ja, wir wollen Ihre Geschichte wissen und wir sind für Sie da!" (Barbara Pühl)

Verena Osgyan von den Grünen hält eine Studie von externen Fachleuten ebenfalls für sehr wichtig. Auch aus den Erfahrungen anderer Landeskirchen und Organisationen könne die bayerische Landeskirche lernen. Denn sexualisierte Gewalt werde zwar durch bestimmte Strukturen begünstigt, sei aber ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, so die Politikerin. Unbedingt extern verorten würde sie die geplante zentrale Ansprechstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt. Im Video erklärt sie wieso:

Präventionsangebote der evangelischen Kirche

Die Website hinschauen - helfen - handeln ist eine Initiative der evangelischen Landeskirchen und der Diakonie gegen sexualisierte Gewalt. Hier finden Sie

  • Informationen zur Präventionsarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
  • Handreichungen zum Download, die Sie beim Überprüfen von Risikofaktoren unterstützen und Ihnen einen Leitfaden für ein Schutzkonzept geben
  • Ansprechpartner aller Gliedkirchen der EKD
  • bundesweite Präventionsseminare
  • Schulungstermine für Multiplikatoren
  • Hilfe für Betroffene
Hilfe bei sexueller Gewalt