Inzwischen sind es gut 35 Meter, mehr als 3.000 Knoten. Seit Wochen trägt Sebastian Wolfrum eine hölzerne Spindel mit sich herum. Darauf aufgewickelt ist ein Stückwerk aus allerhand Fäden, Seilen, Bändern und Basten, jeweils zwischen einem dreiviertel und einem Meter lang. Sie sind alle übervoll mit Knoten, mal 20, mal 90, alle zusammengeknüpft zu einem langen Ganzen. Jeder Knoten steht für einen Menschen, einen von sexuellem Missbrauch in der Kirche Betroffenen. Tag für Tag knotet der evangelische Pfarrer weiter. Am Ende sollen es weit mehr als 4.000 Knoten sein. Einer wird für seine eigene Geschichte stehen.

Geplant war das Projekt zunächst ganz anders. In Würzburg fand im Sommer die Landesgartenschau statt - die Kirchen hatten einen "Ort der Stille" auf dem Gelände. Dort hatte der 47-Jährige mehrmals einen Mittagsimpuls geleitet, unter anderem einen mit Seilen und Schnüren. Die Teilnehmer sollten Verbindungen zwischen zwei Dingen herstellen oder "Gott etwas ins Ohr knoten", das er nicht vergessen soll, erinnert sich der Theologe. Das war wenige Tage, nachdem erste Auszüge der katholischen Missbrauchsstudie öffentlich wurden. Ihm kam die Idee, für jeden Betroffenen einen Knoten zu machen. Hunderte. Tausende.

Die Knotenkette als Sinnbild

Seither knotet der Gemeindepfarrer aus Veitshöchheim bei Würzburg wann und wo auch immer er Zeit und Kraft dafür hat. Abends zu Hause, unterwegs im Zug. Die Spindel ist zu einer Art Begleiter geworden. "Es gibt starke und schwache Teile. Dicke, kräftige Kordeln, brüchigen und dünnen Bast. Die Materialien sind so unterschiedlich wie die Menschen, die von Missbrauch betroffen sind", sagt Wolfrum: "Manche zerbrechen fast an der Last, andere sind stark." Seine gemischte Knotenkette soll ein Sinnbild dafür sein, wie sich die so unterschiedlichen Menschen mit einem ähnlichen Schicksal gegenseitig Halt geben und Tragen.

Wolfrum ist ein bisschen in der "Playing Arts"-Szene unterwegs. Das heißt: Man setzt sich mit den Mitteln der darstellenden und bildenden Künste mit einem Thema auseinander. Das Ergebnis sei dabei "gar nicht so wichtig", sagt der Pfarrer, es geht um den Prozess. Bei ihm also um den Prozess den Knotens, der Sichtbarmachung des Leids, der Menge an Betroffenen. "Die Zahlen sind so schnell gesagt - und vergessen." 479 bekannte Fälle sollen es seit dem Jahr 1950 in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gewesen sein, in der katholischen Kirche waren es laut Missbrauchstudie 3.677 Fälle von 1946 bis 2014.

479 + 3.677 + 1 + X

Diese Zahlen hat Wolfrum als Titel für seine Kunstaktion gewählt: "479 + 3.677 + 1 + X". Die Eins steht für ihn selbst und das X für die vermutlich vielen bislang unbekannten Fälle. "Diese Zahlen sind auf alle Fälle nicht mehr als eine Untergrenze - davon bin ich überzeugt", sagt Wolfrum. Er breitet die Knoten inzwischen regelmäßig aus. In seiner Gemeinde hängt das geknüpfte Band über der ersten Reihe der Kirchenbänke, mal trägt er sie unter dem Talar am Gürtel, auch über die Arme von Kreuzen hat er die Knotenschnur schon gelegt. Die Reaktionen sind immer ähnlich: erst Verwunderung, dann Neugier - und schließlich Betroffenheit.

Dem 47-Jährigen geht es aber nicht nur um eine "hübsche Kunstaktion". Die Tausenden Knoten sollen eine Konfrontation für die Kirchenleitungen und alle kirchlichen Amtsträger mit dem geschehenen Unrecht sein, sagt Sebastian Wolfrum: "Das Ganze soll nach dem letzten Knoten nicht bloß in einer Kiste in der Abstellkammer liegen, es soll bleiben." Auch Aktionen mit dem Knotenband seien denkbar: Bei Synoden, in Gottesdiensten, bei Podiumsdiskussionen. "Die Knoten machen das erfahrene Leid sichtbar, das tut weh - aber das muss es auch", sagt der Pfarrer. Beide Kirchen dürften jetzt nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen.

Gottesdienste für Betroffene

Wolfrum beschäftigt das Thema schon länger - nicht nur, aber auch wegen seiner eigenen Geschichte. 2015 gab es in Würzburg erstmals einen Bitt- und Mutmachgottesdienst für Betroffene sexueller Gewalt. Die Liturgie stammt von ihm, "man könnte jederzeit solche wichtigen Gottesdienste feiern", sagt er. Und man könnte dort einfach mal das von ihm geknüpfte Band durch die Reihen geben und jeden die vielen Hundert Knoten in den Händen spüren lassen. "Das müsste man dann eben mal aushalten, dass 30 Minuten nichts anderes passiert", findet der evangelische Pfarrer.