Am 19. Dezember 2024 erschien in zahlreichen Medien die Schlagzeile "Neu bei ttt - titel, thesen, temperaturen: Thilo Mischke wird ARD-Moderator" - gut zwei Wochen später, am 4. Januar 2025, waren an denselben Stellen Überschriften wie "Nach anhaltender Kritik: Thilo Mischke wird doch nicht ttt-Moderator" zu lesen.

Was ist in den Tagen dazwischen geschehen? Und warum meinen Kolumnisten wie Harald Martenstein auch Mitte Januar immer noch, ihre Meinung zu dem Fall öffentlichkeitswirksam kundtun zu müssen?

Thilo Mischke als neuer Moderator für ttt?

Zunächst kurz zur Sendung: "ttt - titel, thesen, temperamente" ist eine der bekanntesten und wichtigsten deutschen Kultursendungen, die im wöchentlichen Wechsel von sechs Redaktionen der ARD-Landesrundfunkanstalten produziert wird. Max Moors moderierte das Format fast zwanzig Jahre lang, nun stand ein Wechsel an. ttt ist ein relevantes Kulturmagazin, das stets den Ruf hatte, auch progressive Künstler*innen zu fördern und Themen zu setzen. Es ist eine Sendung, die dem Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks entsprechen sollte.

Jetzt zur Personalie Thilo Mischke. Parallel zur offiziellen Bekanntgabe im Dezember, dass der unter anderem als ProSieben-Moderator bekannte Autor und Journalist Mischke die Sendung künftig im Wechsel mit Siham El-Maimouni leiten wird, veröffentlichte ttt auf Instagram ein Video, in dem sich Mischke vorstellt.

Es zeigt den 43-Jährigen im Pullover mit Smartphone vor einem großen Mikrofon und er sagt Dinge wie: "Ich habe eine neue Aufgabe in meinem Leben: Kultur zu vermitteln." Mischke spricht auch über seinen Kulturbegriff, der "sehr unterkomplex" sei. Sein Wunsch sei es, dass jeder Mensch in der Lage sei, Kultur zu konsumieren.

Sein neuer Job mache ihm große Freude,

"weil ich mir kaum etwas Schöneres vorstellen kann, als Menschen zu zeigen, was uns allen so zur Verfügung steht, mit dem wir uns beschäftigen können."

Die Personalie Thilo Mischke

Ein Blick auf die Kommentare unter dem Video zeigte bereits nach wenigen Stunden die Probleme der Personalie Mischke. Erhalten die Videos auf der Instagram-Seite von ttt in der Regel um die 30, in seltenen Fällen über 100 Kommentare, so sind es bei Mischkes Vorstellungsvideo bis heute 2.444.

Einer der prominentesten Kommentare mit über 1.000 Likes:

"Frauenverachtung einfach auch im Jahr 2024 immer noch gut für die Karriere."

In ihrem Ton sind sich fast alle Kommentator*innen einig. Die Besetzung sei "einfach nur lächerlich" und "enttäuschend", Fragen wie "macht ihr denn eure Hausaufgaben nicht" oder "wie kann man so jemandem eine Plattform bieten" werden aufgeworfen. Viele kündigten an, die Sendung in Zukunft nicht mehr anschauen zu wollen.

Klares Fazit einer Instagrammerin, die ebenfalls über 1000 Likes erhielt: "Für mich ist so jemand keine geeignete Besetzung für ein öffentlich-rechtliches Kulturformat". Das Bekenntnis der ARD zu diesem neuen Moderator sei "ein Schlag ins Gesicht für alle Zuschauerinnen".

Wie lauten die Vorwürfe gegenüber Thilo Mischke?

Mischkes Karriere ist von Anfang an durchsetzt von frauenfeindlichen, zum Teil gewaltverherrlichenden und allgemein sexistischen Äußerungen und Veröffentlichungen.

So schrieb der Autor 2010 ein "Sachbuch" mit dem Titel "In 80 Frauen um die Welt", in dem es darum geht, dass Mischke, der gerade eine Trennung hinter sich hat, mit Freunden eine Wette abschließt, dass er eine Weltreise macht und dabei mit 80 Frauen schläft. Er reist von Land zu Land und beschreibt aus der Ich-Perspektive, wie er verschiedene Frauen für eine Nacht verführen will.

Sexistische Bücher

Ein vielzitierter Satz aus dem Buch: "Ich stelle mir vor, wie ich diese arrogante Frau über einen Küchentisch werfe. (…) Ich bin betrunken, schon wieder. Die Arroganz der Münchnerin ist so schwerwiegend, dass ich ihr gerne eine scheuern würde." Schon nach seinem Erscheinen wurde das Buch für seine Darstellung von Frauen, frauenfeindlicher Stereotype, rassistischer Elemente und der sexistischen Wette kritisiert.

Auf Amazon hingegen wird das Buch hingegen als "unglaublich mitreißenden, anrührenden und aufs höchste amüsanten Reisebericht der anderen Art" angepriesen.

Als Nächstes schrieb der 43-Jährige "Die Frau fürs Leben braucht keinen großen Busen". Darin will Mischke, der 30 wurde, "der Liebe endlich ins Gesicht blicken, sie zulassen und nicht länger davonlaufen" und das, in dem er "auf Probe" neuneinhalb Wochen lang mit einer Frau zusammenzieht. 2012 ging Mischke für ProSieben mit "Unter fremden Decken – Auf der Suche nach dem besten Sex der Welt" auf Sendung – der Titel spricht für sich.

Abgründiges Podcast-Gespräch

Dann, 2019, sprach Mischke in einem Podcast unter dem Titel "Feminismus = First World Problems" mit Journalistin Caroline Rosales unter anderem über Vergewaltigungen.

Darin sagte er, dass die "urmännliche" Sexualität "vielleicht" auf Vergewaltigungen beruhe und "die Gesellschaft und die Moral, die wir in den letzten 2000 Jahren Christianisierung in Europa verteilt haben", es den Männern "so ein bisschen abgewöhnt" habe, "dass wir nicht mehr vergewaltigen." Der Urmensch sei laut Mischke vielleicht auch deshalb ausgestorben, weil er "vielleicht zu zärtlich ist zu den Frauen und sie nicht vergewaltigt und der Homo homo sapiens hat eben überlebt, weil er anfänglich in seiner Gesellschaft vergewaltigt."

Fakten oder gar wissenschaftliche Hintergründe liefert der Podcast dabei nicht – wie auch, seine abenteuerlichen "vielleicht"-Thesen wurden an mehreren Stellen widerlegt, etwa in einem sehr ausführlichen Podcast der Journalistinnen Annika Brockschmidt und Rebekka Endler ("Feminist Shelf Control"). 

Reaktion von ARD und ttt

Das Social-Media-Team von ttt reagierte auf die massiv kritischen Videokommentare im Dezember zunächst mit einem kurzen Statement. Man sehe den Unmut und nehme die Situation ernst. 

"Wir, das ttt-Social-Team, sind im engen internen Austausch mit unseren Kolleg:innen und werden uns hoffentlich bald dazu äußern können. Bitte habt bis dahin noch einen Moment Geduld."

Wenig später verteidigte die ttt-Redaktion ihre Entscheidung für Mischke mit einem ausführlicheren Kommentar. Kernaussagen: Mischke habe sich selbstkritisch mit der Kritik an seinem Werk auseinandergesetzt, er distanziere sich heute von seinem Buch, das Podcast-Gespräch sei "aus dem Zusammenhang gerissen" - und seine Kompetenz als Journalist und Reporter habe er seitdem mehrfach unter Beweis gestellt.

Offener Brief

Während die ARD also an ihrem neuen Moderator festhielt, protestierten am 2. Januar 2025 mehr als 100 Autor*innen und Kulturschaffende in einem Offenen Brief an die ARD gegen die Neubesetzung von ttt ein und erhöhten damit massiv den Druck.

In dem Brief heißt es, man sei entsetzt über die Personalentscheidung, mit der das Kulturprogramm nachhaltig beschädigt werde. Eine Zusammenarbeit mit Mischke als Moderator schlossen alle Unterzeichner aus:

"Thilo Mischke hat sich jedoch - entgegen der Behauptung der ARD - bis jetzt nicht kritisch mit seinem Werk auseinandergesetzt und sich nicht ausreichend distanziert."

Die ARD habe 2022 die Erklärung "Gemeinsam gegen Sexismus und sexuelle Belästigung" des Bundesfamilienministeriums unterzeichnet, heißt es in dem Brief weiter: "Mit der Unterzeichnung dieser Erklärung hat sich die ARD verpflichtet, aktiv gegen Sexismus einzutreten."

Zwei Tage später dann die Kehrtwende der ARD - die Kulturchef*innen der an der Sendung beteiligten Landesrundfunkanstalten hätten entschieden, von Mischke als Moderator abzusehen.

Statement des Öffentlichen-Rundfunks

Das Statement der ARD ist es dabei wert, genauer betrachtet zu werden. "Thilo Mischke ist ein anerkannter Journalist und mehrfach preisgekrönter Reporter", beginnt die Rechtfertigung. Die "heftige Diskussion" rund um die Personalie würde nun jedoch leider die zentralen Themen der Sendung überschatten – und nun gehe es vor allem darum, "einen weiteren Rufschaden von ‚ttt‘ und Thilo Mischke abzuwenden."

Mischke befinde sich außerdem in einem "noch andauernden Prozess der Auseinandersetzung mit den Ereignissen" und werde sich noch selbst äußern. Namentlich zitiert wurde außerdem ARD-Programmdirektorin Christine Strobl (übrigens die Tochter des verstorbenen CDU-Politikers Wolfgang Schäuble), die betont, viele Gespräche mit Mischke zu führen, "den wir schätzen".

Die Reaktionen auf das Statement sprechen für sich. Ein Kommentar auf Instagram, der mehr als 4.400 Likes erhielt, fasst die Empfindungen der potentiellen ttt-Zuschauer*innen gut zusammen:

"Sorry, aber dieses Statement liest sich, als hättet ihr nichts verstanden. Es wäre eine Chance gewesen, sich mit der vielfältigen, sorgfältig recherchierten, allergrößtenteils sachlich geäußerten Kritik von Menschen, die den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk schätzen, umfassend und zukunftsweisend auseinanderzusetzen. Man hätte transparent und mit Größe eingestehen können, dass man entweder wichtige Recherchearbeit im Vorfeld versäumt oder Dinge falsch eingeschätzt hat und dankbar ist, dass die Community so mitdenkt. (…) Ein bisschen Diplomatie in offiziellen Statements ist ja verständlich, aber hier sagt wirklich jeder Satz in einem zwischen den Zeilen zähneknirschenden, beleidigtem Ton aus: Wir geben nach, weil ihr so rumnervt, der arme Thilo, seid ihr jetzt zufrieden? Kein einziges Wort zu den inhaltlichen Argumenten. Das ist wirklich sehr enttäuschend und wird das Format weiter beschädigen. (…)"

Sämtliche Kommentator*innen sind sich einig, dass der Kern der Kritik nicht verstanden, oder bewusst ignoriert wurde. Die Vorwürfe gegen die ARD sind massiv.

Auswahlverfahren der Kulturchef*innen

Laut "FAZ" war der Umgang der beteiligten Kulturchef*innen von Anfang an zweifelhaft. Mischke sei nur einer von zwei Gewinnern beim Casting für die Nachfolge gewesen und dann als Sieger aus einem "Nutzertest" hervorgegangen. Die Realität sah laut "FAZ" jedoch anders aus. Demnach gewann nach dem Casting von fünf potenziellen Nachfolgern ein anderer Kandidat klar mit vier Stimmen (zwei votierten für Mischke).

Auch bei einer Zuschauerbefragung konnte Mischke in Sachen Seriosität und Kulturkompetenz nicht überzeugen. Trotzdem entschieden sich die Programmverantwortlichen wohl ohne erneute Befragung für ihn, so dass sich am Ende auch diejenigen übergangen fühlten, die für ihn gestimmt hatten. Auch mehrere Redakteur*innen sollen vor der Verkündung der Personalie im Dezember ihren Protest geäußert und vor einem Shitstorm gewarnt haben. Dennoch wurde der Moderator - wohl "von oben" - durchgesetzt.

Reaktion von Thilo Mischke

Der letzte Post von Thilo Mischke auf Instagram liegt bereits drei Wochen zurück, das Vorstellungsvideo zu seinem neuen Job bei ttt ist immer noch auf seiner Seite zu sehen. Ein Statement zu seiner Absetzung steht Mitte Januar noch aus.

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