Seit fast 12 000 Jahren leben Menschen in Matera. Durchgehend. Die Stadt in der süditalienischen Basilicata gehört zu den ältesten dauerhaft besiedelten Städten der Welt. Zum Vergleich: Plovdiv, die andere europäische Kulturhauptstadt 2019, bringt es "nur" auf ebenfalls schon recht stolze 6000 Jahre.
Matera ist so alt wie Jericho oder Aleppo – aber wer kennt schon Matera? Ohne es zu wissen vermutlich dann doch wieder ziemlich viele. Jedenfalls als Filmkulisse: Die verschachtelten kubischen Häuser, die in den weichen Tuffstein geschlagenen Grotten, die verwinkelten Gassen, das malerisch-urtümliche Durcheinander der "Sassi", wie die beiden ältesten Höhlenviertel der Stadt heißen – Matera hat in vielen großen Bibelfilmen mitgespielt.
Zum Beispiel 1984, als der damals noch junge Hollywood-Star Richard Gere "König David" spielte. 2004 kam dann Mel Gibsons "Die Passion Christi" in die Kinos – eine Blutorgie des Leidens Christi. Während die einen den konservativ-katholischen Regisseur und seinen Film für dessen "Realismus" feierten – die Protagonisten sprachen beispielsweise Aramäisch und Latein –, verteufelten andere die Hardcore-Sühneopfer-Theologie des Films.
Doch ohne Pier Paolo Pasolini (1922-1975) hätte Hollywood Matera vermutlich nie entdeckt. Der große italienische Filmregisseur kam als Erster: im Sommer 1964 für seinen Film "Das 1. Evangelium – Matthäus" (Il vangelo secondo Matteo). Matera war Jerusalem in dem ikonisch-mythischen Schwarz-Weiß-Film, der wenig Worte macht, vieles mit Gesten und eindrücklich-strengen Bildern erzählt. Als der Jesusfilm des homosexuellen Kommunisten Pasolini in Venedig auf der Biennale erstmals gezeigt wurde, riss er im Kinosaal das Publikum zu Ovationen von den Sitzen. Draußen randalierten Neofaschisten gegen den Film. Pasolinis Jesus verkörperte für sie den Untergang des Abendlands.
Linke Kritiker fanden den in Matera und anderen Orten im armen italienischen Süden gedrehten Film dagegen zu fromm, zu "konformistisch". Pasolini hatte "Il vangelo secondo Matteo" dem während der Dreharbeiten gestorbenen Papst Johannes XXIII. gewidmet. "Il Papa buono" (der gute Papst), wie ihn der Volksmund nannte, hatte das Zweite Vatikanische Konzil zur Erneuerung der Kirche einberufen. Auf eine volksnähere, den Armen stärker zugewandte Kirche hoffte damals nicht nur Pasolini. Auch die damals tagenden Konzilsväter ließen sich den Film in einer Privatvorführung zeigen. Auch hier gab es am Ende minutenlang begeisterten Applaus.
Matera war damals weniger berühmt als berüchtigt. Als "vergogna nazionale", nationale Schande, war die ehemalige Provinzhauptstadt Lukaniens bekannt – wegen der Armut und Rückständigkeit der Region, weil in den Sassi Materas die Menschen noch im 20. Jahrhundert unter heute kaum noch vorstellbaren Elendsbedingungen hausten.
Basilicata heißt die Gegend genau in der Mitte der Sohle des italienischen Stiefels erst seit 1947 wieder. Den Faschisten hatte das zu griechisch geklungen. Lange regierte hier Byzanz und hinterließ nicht nur den Namen seiner Königsstatthalter. Lukanien ist der antike römische Name der Gegend.
Einer, den Italiens Faschisten in diese gottverlassene Ecke des Landes in die Verbannung schickten, machte die "nationale Schande" öffentlich: der Turiner Arzt, Maler und Schriftsteller Carlo Levi (1902-1975). Mit seinem dokumentarischen Roman "Christus kam nur bis Eboli" (Cristo si è fermato a Eboli) hat er der Basilicata, der Not der Menschen dort und ihrer Anmut ein Denkmal gesetzt. Das Buch wurde ein internationaler Bestseller.
"Wie alle Orte hierzulande liegt Grassano als weißer Fleck auf dem Gipfel eines hohen, kahlen Hügels wie ein kleines erträumtes Jerusalem in der Einsamkeit einer Wüste" –
so beschreibt Levi seinen ersten Verbannungsort unweit von Matera. Die Armut ist hier so entsetzlich und allgegenwärtig, dass die Menschen von sich selber sagen: "Wir sind keine Menschen, keine Christen, wir sind Tiere, denn Christus kam nur bis Eboli, aber nicht weiter, nicht zu uns."
Levi darf als "confinato" seinen Verbannungsort nicht verlassen, aber die Menschen wachsen ihm ans Herz. Obwohl er schon ewig nicht mehr als Arzt praktiziert hat, behandelt er Kranke unentgeltlich mit den Mitteln, die er eben so hat, bis ihm der faschistische Bürgermeister auch das verbietet. Wie Vieh sind die Menschen, stoisch und resigniert. Sie rebellieren nur selten. Ihr Schicksal besteht aus Hunger, Malaria und endloser Mühsal unter dem Joch der gierigen lokalen "Elite", der landbesitzenden "gentiluomini". Das Christentum ist hier nichts weiter als ein Aberglaube unter vielen anderen.
Levis Buch erschien 1945 und wurde seither in Dutzende Sprachen übersetzt. Es ist ein Stück Literatur, das kaum einen Leser unberührt lässt.
Damals lebten noch mehr als 15 000 Menschen in den Sassi von Matera, dicht an dicht in unbeschreiblichen Verhältnissen, Mensch und Vieh gemeinsam in feuchten Höhlen, die Schweine unterm Bett, Hühner, Maultiere, Babys. Die Kindersterblichkeit lag bei 50 Prozent.
Von einer nationalen Schande sprach als erster 1948 der Kommunistenführer Palmiro Togliatti; der große Christdemokrat Alcide de Gasperi pflichtete ihm bei. Matera wurde zum Symbol des rückständigen und unterentwickelten Südens – und zu einem Soziallabor. Per Gesetz wurden die Sassi 1952 geräumt und ihre Bewohner von Höhlen in Sozialbausiedlungen umgepflanzt.
Einer, der vor den Nazis aus Deutschland fliehen musste, begleitete das soziale Großprojekt wissenschaftlich: Friedrich Georg Friedmann (1912-2008), Sproß einer Augsburger jüdischen Unternehmerfamilie, war auf ein katholisches Gymnasium gegangen. Nach der Machtübernahme der Nazis ging er nach Italien und studierte an der päpstlichen Universität in Rom Philosophie. In Rom lernte er auch seine Frau kennen, auch sie war aus Augsburg. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs flohen sie über England in die USA. Der Grenzgänger zwischen den Kulturen kam 1960 nach Deutschland zurück. An der Münchner Uni begründete er das Fach der Amerikanistik. Er wurde zu einer treibenden Kraft im Dialog zwischen Juden und Christen und starb 2008 in Augsburg.
1950 kehrte Friedmann aber erst einmal zurück nach Italien – mit einem Fulbright-Stipendium und einem Traum: Er wollte helfen, die rückständigste aller süditalienischen Regionen sanft und bewahrend in die Moderne zu führen.
"›Humanismus‹ bedeutet (…) die Fähigkeit, sich in andere Kulturen hineinzuverstehen",
war Friedmanns Überzeugung.
Wie Levi beschreibt auch Friedmann in seiner Matera-Studie den Zusammenhalt und die ursprüngliche Gemeinschaft der aus landlosen Pachtbauern bestehenden lukanischen Unterschicht. Das Leben in den Sassi fand im Freien und gemeinsam statt. Das Brot – bis heute eine Materaner Spezialität – wurde in Kommunbacköfen gebacken. Die Menschen hatten wenig, aber sie hatten Gemeinsinn.
Doch aus dem Modelldorf "La Martella", einer Art süditalienischem Kibbuz, der den Matera-Utopisten vorschwebte, wurde nichts. Auch im Süden Italiens behinderten sich – Don Camillo und Peppone lassen grüßen – konservativ-christliche und kommunistische Politiker nach Kräften, obwohl sie sich in den ursprünglichen Zielen eigentlich durchaus einig waren.
Die Höhlen standen lange leer und verfielen. Aber einige Materaner träumten von einer Renaissance des Lebens dort. Kulturinitiativen und junge Hausbesetzer zogen als Erste wieder ein. Seit 1993 gehören die Sassi von Matera sogar zum Unesco-Weltkulturerbe. Inzwischen sind die Höhlen in der ehemals bitterarmen Unterstadt zu einem guten Teil "gentrifiziert": Malerisch ist schick. Matera hat – gemessen an seinen 60 000 Einwohnern – mit die meisten über das Internet vermieteten Airbnb-Wohnungen in Italien. In den Höhlen gibt es Sterne-Restaurants und Fünf-Sterne-Hotels, spannende Museen und moderne Kunst.
Sehenswert sind auch die Höhlenkirchen im Parco delle Chiese Rupestri del Materano. Der 8000 Hektar große Archäologiepark umfasst nicht nur steinzeitliche Höhlensiedlungen, sondern auch mehr als 150 Felskirchen. Die unterschiedlichsten Kulturen haben ihre Spuren hinterlassen: Die Langobarden waren hier und die Normannen, orthodoxe Griechen aus Byzanz und viele Christen, die vor den muslimischen Eroberern aus Kappadokien, Syrien, aus Kleinasien flohen. Manche Kirchen dienten später als Wohnbehausungen oder Viehställe oder beides.
Der "weiße Mönch"
Eher gesichts- und geschichtslos sieht die "Chiesa evangelica battista", die Baptistenkirche von Matera aus, die ein paar Kilometer entfernt vom Zentrum und den Sassi in einer Neubausiedlung am Ortsrand steht. Und doch erzählt das Leben ihres Gemeindegründers mehr über Matera, die Armut und die Widersprüche in der Basilicata, als die meisten Touristen im Kulturhauptstadtjahr 2019 mitbekommen dürften.
Die erste Überraschung besteht darin, dass die Baptistengemeinde von Matera bereits 115 Jahre alt ist. Ihre Geschichte ist die Geschichte des Luigi Loperfido, unehelich geboren am 5. Juni 1877, aus bitterarmer Familie, Analphabet. Mit 13 ausgewandert nach New York, wo ein Arzt und seine Frau den "unbegleiteten minderjährigen Wirtschaftsflüchtling" aufnehmen und für seine Ausbildung sorgen. Luigi zieht es in die Kunst, er studiert Bildhauerei und was an klassischen Werken in den Museen Neuenglands steht. Und er ist talentiert. Erste Zeitungsartikel erscheinen über seine Arbeiten. Luigi politisiert auch: Er schließt sich der Gewerkschaftsbewegung an. Mit dem Elend der "Verdammten dieser Erde" kennt er sich aus.
Mit seiner alten Heimat bricht er aber nicht. 1899 kehrt er zur Musterung für den Militärdienst nach Italien zurück. Er reist durch Italien, um sein Kunststudium abzurunden, aber die Mittel reichen nicht.
Er strandet in Matera, wo er Zeuge wird, wie Hungeraufstände brutal niedergeschlagen werden. Eigentlich träumt Luigi Loperfido von einer Erneuerung der Welt durch die Kunst, durch einen "culto della bellezza", einen Gottesdienst der Schönheit. Doch in Matera sieht die Wirklichkeit anders aus:
"Ein beißender Gestank der extremen Armut umhüllte die ganze Ansiedlung wie eine Haube: Fünf Sechstel der Bevölkerung lebten ausschließlich von der Landwirtschaft und benötigten extreme Wirtschaftsmethoden, um zu überleben. So war es üblich, die eigenen Exkremente zu sammeln und zu Hause aufzubewahren, indem man sie tagsüber in der Sonne trocknen ließ und dann für die Nacht nach drinnen holte, um zu verhindern, dass andere arme Leute sie stahlen, um sie schließlich als Dünger für die Felder zu verwenden",
hat Loperfido später notiert.
1902 gründet er eine Gewerkschaft der Pachtbauern. Sie hat in kürzester Zeit 3000 Mitglieder. Als nach einem Streik ein Bauer von der Polizei erschlagen wird und er selbst im Gefängnis landet, erfährt Loperfido ein Bekehrungserlebnis. Er beginnt – in einer weißen Tunika und Sandalen an den nackten Füßen –, unter den Bauern das Evangelium zu predigen.
Im Juli 1903 lässt er sich von einem Baptistenpastor im Flüsschen Bradano taufen. Spätestens jetzt hat Loperfido seinen Spitznamen weg: Man kennt ihn nun als den "Weißen Mönch".
Mit Loperfido als Prediger beginnt die Baptistengemeinde in Matera zu wachsen. Die sozialen Spannungen bieten dafür fruchtbaren Boden. Massen an landlosen Pachtbauern stehen die Familien des alten Bürgertums mit seinem ausgedehnten Großgrundbesitz gegenüber. Für nicht wenige ist der Katholizismus nichts anderes als die Religion der herrschenden Klasse, der Besitzenden. Jesus, den selbst armen Freund der Ärmsten, und seine Botschaft scheint die mit den Mächtigen paktierende katholische Kirche verraten zu haben. Das macht die "häretischen" evangelischen Kirchen für die lukanischen Habenichtse interessant.
Loperfido richtet eine Abendschule für Erwachsene ein. Er gründet eine Konsumgenossenschaft, um mit günstigeren Waren die Versorgung zu verbessern. Den Faschisten, die nach Mussolinis "Marsch auf Rom" 1922 die Macht übernehmen, ist der sozialistisch-fromme "Weiße Mönch" ein Dorn im Auge. Sie verbannen ihn schließlich in ein kampanisches Kaff.
Der Kampf um das Land und mehr soziale Gerechtigkeit ging nach dem Ende des Faschismus weiter. Mit Landbesetzungen versuchten die "contadini" Ende der 40er-Jahre eine später halbherzig durchgeführte Landreform vorwegzunehmen. Der bayerische Matera-Forscher Friedmann berichtet von einer Szene, die in ihrer archaischen Epik aus einem Pasolini-Film stammen könnte:
"Im allgemeinen war es ein ganzes Dorf, das (…) auszog, um symbolisch ein unkultiviertes Stück Land zu beackern. Dabei kam es gelegentlich zu Zusammenstößen mit der Polizei. (…) Als die Polizei einmal die Bewohner eines Dorfes bei einem solchen Auszug mit den Worten anhielt: ›Halt! Im Namen des Gesetzes!‹, fragte der Anführer der Bauern: ›Im Namen welchen Gesetzes?‹. Der Polizist antwortete: ›Im Namen des Gesetzes des Republik Italien‹. Darauf der Anführer des Bauern: ›Lasst uns ziehen, denn wir sind hier im Namen eines höheren Gesetzes, des Gesetzes Jesu Christi.‹"
Als der Baptistenprediger Luigi Loperfido am 28. Dezember 1959 mit 82 in Matera starb, wohnte niemand mehr in den Sassi. Viereinhalb Jahre später kam Pier Paolo Pasolini und drehte seinen Jesusfilm.
Internet: www.basilicataturistica.it/de