Eigentlich hätte Paul McCartney sich schon mit 27 Jahren zur Ruhe setzen und auf den Lorbeeren ausruhen können. Am 10. April 1970 hatte der in Liverpool aufgewachsene Sohn einer Mittelschichtsfamilie seinen Ausstieg von den Beatles erklärt. Die Band die rund zehn Jahre vorher aus den ersten musikalischen Gehversuchen mit John Lennon entstanden war, den er 1957 auf einem Kirchengemeindefest kennengelernt hatte.

Ab 1962 hatten die beiden Busenfreunde zusammen mit George Harrison und Ringo Star die Pop-Welt erobert. Legendär sind die ersten Gastspiele im Hamburger Starclub der "Fab Four" mit den von der deutschen Fotografin Astrid Kirchherr erfundenen "Pilzköpfen" und die bald über den gesamten Erdball wallende "Beatlemania" mit kreischenden Teenagern in völlig überfüllten Sälen und Stadien.

Der einmalige Sound der Beatles

Mit den Beatles hatte McCartney nicht nur eine einmalige Mischung aus Rhythm and Blues und Rock ´n´ Roll erfunden, die bald als "Beatmusik" in der Pop-Kultur den Ton angab. Ab Mitte der 1960er-Jahre revolutionierten seine und Lennons Kompositionen in Zusammenarbeit mit dem kongenialen Produzenten George Martin die gesamte populäre Musikwelt.

Rückwärts abgespielte Tonbänder wie auf "Tomorrow never knows", die ersten Versuche mit Sampling bei "I am the walrus" und  Synthesizern bei "Here comes the sun", orchestrale Arrangements wie im meistgecoverten Song aller Zeiten, "Yesterday", Heavy Metal-Ausbrüche wie "Helter Skelter" oder aufs Wesentlichste reduzierte Songperlen wie "Blackbird" – der Kreativität der Beatles schienen keine Grenzen gesetzt, die nächste Single und spätestens ab "Sergeant Pepper" 1967 das mittlerweile zur Kunstform gewordene Album wurden mit Spannung erwartet. Und gefeiert, weil die Beatles und allen voran McCartney immer den Song an sich im Vordergrund hielten.

Nicht nur als Komponist brilliert der mehrfache Grammy-Preisträger. Der Linkshänder machte die runden Formen des Höfner-Basses salonfähig und gilt wegen seiner abwechslungsreichen Spielweise von kühl unterstützend ("Lucy in the sky with diamonds") bis verspielt ("Paperback Writer") als einer der besten Bassisten aller Zeiten (Platz 9 des "Rolling Stone"-Magazins). Als Sänger schafft der Tenor  McCartney eine schier unglaubliche Bandbreite von viereinhalb Oktaven, nachzuhören auf der mit Michael Jackson für dessen "Thriller"-Album 1981 aufgenommenen "The Girl is Mine" bis hin zu schwindelerregenden Höhen wie bei den Schreien von "Twist & Shout" (1964).

Kompositorische Freiheiten

Oft bleibt er fragmentarisch, schreibt einen Song lieber kürzer, bevor ihm die Ideen auszugehen scheinen. Diese Herangehensweise erfährt man bereits auf den späteren Beatles-Alben "White Album" und "Abbey Road", das mit "Her Majesty" und einer Länge von 23 Sekunden das kürzeste Beatles-Stück überhaupt enthält, dem sogar der letzte Gitarrenton in der Originalversion fehlt. Auch das erste, nur wenige Tage nach dem Verkünden des Endes der Beatles erschienene erste Soloalbum "McCartney" enthält solche Songskizzen.

Das exakt zehn Jahre und viele mit seiner künftigen Begleitband "Wings" eingespielten Alben später präsentierte "McCartney II" überraschte dann nicht nur mit ungewöhnlichen Stimm- und Synthesizer-Experimenten, sondern sogar mit Vocoder-Stimme und Beats auf über zehn Minuten. Es sollte noch einmal 40 Jahre dauern, bis der Musiker kurz vor Weihnachten 2020 "McCartney III" veröffentlichte, abermals mit Stilexperimenten.

Abheben mit den "Wings"

Mit den "Wings" legt der Brite in den 1970er-Jahren eine Karriere hin, die immer im Schatten der Beatles stand, allerdings ihren eigenen Stern am Rock-Himmel verdient. Für den James-Bond-Film "Leben und sterben lassen" schrieb McCartney den Titelsong "Live and let die", schlug mit "Band on the run" progressive Töne an, ließ aber auch seichte Pop-Gewässer nicht aus. 1979 flogen die "Wings" davon. In den 80er-Jahren machte McCartney dann schlicht, was er wollte: Edlen Erwachsenen-Pop mit anderen Größen wie Michael Jackson ("Say, say, say") oder Stevie Wonder ("Ebony & Ivory"), Filmmusik, nimmt teilweise durchwachsene und von der Kritik zerrissene Alben auf und lässt es 1988 mit einem zunächst nur in der Sowjetunion erschienenen Album mit Covers alter Rocker der 1950er wieder krachen.

Immer wieder Experimente

Zum Ende des Jahrzehnts erst kommt McCartney dann wieder musikalisch in die Spur. Die Zahl der "Füller" auf seinen Solo-Alben sinkt. Songs wie "Hope of Deliverance" (1993) werden noch heute regelmäßig im Radio gespielt. Mit dem "Liverpool Oratorio" versucht er sich im selben Jahr erstmals an einer klassischen Komposition. 1995 kommt McCartney sogar mit seinen beiden nach dem Mord an John Lennon am 8. Dezember 1980 noch lebenden Beatles-Kollegen George Harrison und Ringo Starr zusammen und nimmt für eine Anthologie alter Aufnahmen und einem dazugehörigen TV-Projekt zwei neue Songs auf – einer davon, "Free as a bird" basiert auf einem Demo Lennons, über den er nach dessem Tod kein böses Wort mehr verlieren wird. Unter dem Pseudonym "Firemen" geht McCartney eine neue musikalische Allianz mit dem Produzenten "Youth" ein und veröffentlicht Musik, die eher dem Sektor "Alternative Rock" zuzuordnen ist. Wieder eine Facette mehr.

Keine Skandale

Das Privatleben des Stars bleibt bis Ende des Jahrtausends meist aus dem Boulevard draußen. Nach dem Ende der Beatles muss sich McCartney ab 1970 neu erfinden. Ein Jahr zuvor hatte er die Fotografin Linda Eastman geheiratet und zieht mit ihr und der bald größer werdenden Familie auf eine Farm auf der schottischen Halbinsel Kintyre, der er 1977 mit seiner neuen Band "Wing" und "Mull of Kintyre" ein Song-Denkmal setzt. Dort verdingt er sich als Farmer. Der sensible Künstler ringt aber mit der neu gewonnenen Ruhe, versinkt fast im Alkohol und schreibt erst wieder Songs, als seine Linda ihn zum Songschreiben zwang. Das Cover von McCartneys Soloalbum "Ram" zeigt ihn, während er ein Schaf am Kopf packt. Kollege Lennon karikiert diese Szene auf seinem Album "Imagine", auf dessen Coverrückseite er grinsend ein Schwein zu fangen scheint.

Das Landleben tut den McCartneys gut, sie werden Vegetarier und setzen sich für den Tierschutz ein. Angeblich gibt es ein Schlüsselerlebnis mit einem kleinen Lamm, das gerade zur Türe hereinspaziert, als die Familie über einem Lammbraten beim Essen sitzt und wie ein Wink mit dem Zaunpfahl wirkt.  Linda McCartney, die zeitweise sogar die Keyboards bei den "Wings" bedient hat, bringt mehrere Bücher zum Kochen vegetarischer Gerichte heraus und gründet 1991 sogar ein Unternehmen für vegetarische Fertigprodukte. 1998 stirbt Linda an Brustkrebs. Seine zweite Ehe mit Heather Mills, die er 2002 heiratet, wird 2008 wieder geschieden. Da dies nicht geräuschlos geschieht und McCartney einer der prominentesten Pop-Stars überhaupt ist, wird der anschließende Rosenkrieg durch die Gazetten ausgetragen.

Wie die McCartneys heute die Öffentlichkeit bestimmen

Jenseits davon feiert McCartney aber durch die 2000er-Jahre bis heute ausverkaufte Tourneen, nimmt ein Album nach dem anderen auf und überrascht immer wieder seine Fans mit seiner Wandelbarkeit. Längst sind es seine Kinder, die medial zwar nicht mit Musik, aber mit besonderen Aktionen und ihrer eigentlichen Arbeit seinen Namen weiter tragen. Stella McCartney macht seit Jahren als Schöpferin von veganer Mode von sich reden. Schwester Mary fotografiert wie ihre Mutter, allerdings vorwiegend Kampagnen für die weltweit größte Tierrechtsorganisation PETA.  Sohn James, ebenfalls Musiker, engagiert sich regelmäßig in der Öffentlichkeit für die Rechte von Tieren.

Im Juni 2009 rufen die McCartneys die Kampagne "Meat Free Monday" ins Leben und plädieren für einen fleischfreien Montag in der Woche, um die Tiere, die Umwelt und das Klima zu schützen. Zahlreiche Prominente wie Leona Lewis, Woody Harrelson, Moby und Starkoch Jamie Oliver unterstützen sie. Am 3. Dezember 2009 hält McCartney schließlich eine Rede vor dem Europäischen Parlament. Thema: "Globale Erwärmung und die Nahrungsmittelpolitik: weniger Fleisch = weniger Erwärmung". 2019 veröffentlicht der Münchener Claudius-Verlag die Rede in Buchform unter dem Titel "Less meat, less heat".

Religion

Spirituelle Hintergründe für seine "Meat Free"-Kampagne nennt McCartney keine explizit. Ein klares Bekenntnis zu einer Religion hat der Musiker nie gegeben. Erst 2018 bekennt er gegenüber dem britischen Kulturmagazin "Sunday Times", sich in religiöser Hinsicht nicht festlegen zu wollen, aber aber an die Existenz eines höheren Wesens glaube.

Dafür hat der Musiker immer wieder mit religiösen Motiven in seiner Musik gespielt. Die "Mother Mary", die ihn in "Let it be" besucht und weise Worte spricht, deuten viele als die Muttergottes. Es könnte aber auch seine eigene Mutter Mary gemeint sein, die bereits 1956 verstorben ist, als Paul gerade mal 14 Jahre alt war. 2006 wählt McCartney dann für sein viertes klassisches Werk "Ecce Cor Meum" noch einmal die Form des Oratoriums.

Und dennoch hatte Paul McCartney einmal eine Gotteserfahrung: Dem US-amerikanischen Moderator Howard Stern verriet er 2018 in einem Interview, dass bei den Session zu "Sergeant Pepper" 1967 ein Mann an seine Tür geklopft habe, der sich als "Jesus" vorstellte. Auch wenn McCartney dieser Erscheinung des Sohnes Gottes nicht so recht traute, bekannte er gegenüber Stern: "Ich hab ihn nicht wegschicken wollen, vielleicht war er es ja wirklich?".

Meat Free Monday
Paul McCartney Initiative "Meat Free Monday" für einen fleischlosen Tag in der Woche für den Klimaschutz.