Guy Nattiv war 2019 der erste israelische Regisseur, der einen Oscar gewann. Ausgezeichnet wurde sein Kurzfilm "Skin", der Rassismus und Gewalt in den USA thematisiert. Nattiv lebt seit zehn Jahren in den USA. Kurz nach dem 7. Oktober bekannte er in einem Interview: "Was nun passiert ist, war zehnmal schlimmer als das Jom-Kippur-Debakel."
Bis zu den aus Gaza verübten Massakern des 7. Oktober 2023 galt der Jom-Kippur-Krieg, der fast auf den Tag genau 50 Jahre zuvor, am 6. Oktober 1973, begann, als das schlimmste nachrichtendienstliche und sicherheitspolitische Debakel Israels. Dann kam der 7. Oktober – und seither ist vieles nicht mehr wie zuvor.
Die Angst hinter vernagelten Fenstern
In gewisser Weise ist auch Guy Nattivs Film "Golda", der am 30. Mai in die Kinos kommt, dem 7. Oktober und seinen Folgen zum Opfer gefallen. Was die israelische Gesellschaft traumatisiert hat, Gaza und was gerade weltweit rund um Israels Krieg gegen die Hamas dort tobt – all das legt sich wie ein Schleier über die Geschichte, die "Golda" erzählt.
Golda Meir, die erste und bisher einzige Ministerpräsidentin des Landes, ist in Israel umstritten. Viele werfen ihr dort vor, unter ihr sei das Land fahrlässig unvorbereitet gewesen, als Syrer und Ägypter 1973 zum höchsten jüdischen Feiertag Israel angriffen und an den Rand einer Niederlage führten. Binnen weniger Tage konnte Israel unter hohen Verlusten das Blatt wenden, den Golan zurückerobern und seinerseits Ägypten an den Rand der Niederlage führen. Doch der Krieg zeigte, dass die israelische Armee nicht unbesiegbar war. Fast 2700 Tote, mehr als 7000 Verwundete, mehr als 340 Kriegsgefangene lautete die Bilanz der 20 Kriegstage auf israelischer, etwa das Dreifache dieser Opferzahlen auf arabischer Seite.
(K)eine "eiserne Lady"
"Golda" bleibt immer nah an seiner Protagonistin und zeigt den Krieg als intensives Kammerspiel. Für die Maske hat der Film zu Recht eine Oscar-Nominierung erhalten: Helen Mirren verkörpert Golda Meir auf eine so ganzheitliche Weise, dass der Film problemlos Filmdokumente aus der Zeit in die Spielhandlung einflechten kann, ohne dass dies auffallen oder stören würde.
Guy Nattiv wurde nur wenige Wochen vor Beginn des Jom-Kippur-Kriegs geboren. Ministerpräsidentin damals: Golda Meir von der Arbeiterpartei Avoda. Nattiv sagt auch nach dem 7. Oktober von sich: "Ich bin pro Palästina. Ich bin pro freies Palästina. Ich bin ein Linker, kein Konservativer." Seine "Golda" zeigt, dass "Israels eiserne Lady" (so der etwas missglückte deutsche Untertitel des Films) keineswegs eisern, oder wenn, nur nach außen war.
Die Dämonen der Vernichtung
Was die Öffentlichkeit beispielsweise nicht weiß: Kettenraucherin Golda Meir (60 Zigaretten am Tag – im Film gibt es keine Szene mit ihr ohne Zigarette) hat Krebs. Doch es sind auch die Dämonen des in der Kindheit in Russland erlebten Antisemitismus, die sie nachts nicht schlafen lassen, während ihr Land vor der Niederlage steht. Nie werde sie die Augen ihres Vaters vergessen und dessen Angst um die Familie, als zu Weihnachten betrunkene Kosaken im Dorf Jagd auf Juden machten, die sich hinter vernagelten Fenstern in ihre Häuser verkrochen hatten. Sie werde bis zum Äußersten kämpfen, lebend werde sie dem Feind nicht in die Hände fallen, bekennt sie, als in den ersten Kriegstagen die Niederlage droht.
Ein Friedensvertrag mit Ägypten stand am Ende des Kriegs vor 50 Jahren. Golda Meirs eigentlicher Sieg damals: den Gegner, Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat, zu zwingen, von "Israel" zu sprechen statt von einem "zionistischen Gebilde", die Existenz dieses Staats Israel anzuerkennen.
Friedensnobelpreis für den Nachfolger
Nur wenige Monate nach dem Krieg trat Golda Meir im April 1974 zurück – auch wegen ihres angeblichen Versagens beim arabischen Überraschungsangriff. Den Friedensnobelpreis nahm (mit Sadat) 1978 ihr erzkonservativer Nachfolger Menachem Begin entgegen. Wenige Wochen später, am 8. Dezember, starb die 80-Jährige an Lymphdrüsenkrebs.
Kurz vor dem Filmstart hat nun der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs ICC einen internationalen Haftbefehl gegen Golda Meirs Nach-Nach-Nach-Nachfolger Netanjahu beantragt. Das hat weltweit für Jubel bei den einen und für Entsetzen bei anderen gesorgt. Bei diesen auch deswegen, weil der ICC-Antrag den demokratisch gewählten Ministerpräsidenten eines Landes mit funktionierendem Rechtssystem quasi mit Hamas-Terrorchef Jahja Sinwar gleichsetzte.
Goldas Frieden mit Ägypten hält bis heute – allen Spannungen zum Trotz. Doch Israel und die Juden müssen noch immer um ihre Existenz kämpfen, an vielen Fronten. Noch immer und vielleicht offener denn je wünschen sich heute gewaltige "Armeen" an Menschen weltweit die Auslöschung Israels: Rechte, Linke, Muslime – und in den Feuilletons der gesellschaftlichen Mitte bei uns.
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