Ein Feld, übersät mit Leichen deutscher Soldaten. Die Überlebenden streifen den Toten die Uniformen vom Leib, bevor die Leichname in Holzsärgen entsorgt und in die Erde gestapelt werden. Bündelweise kommen die blutverschmierten Kleiderstücke in eine Industriehalle, wo sie gewaschen werden. Arbeiterinnen nähen die Einschusslöcher wieder zusammen.
Das mechanische Klackern der Nähmaschinen verbindet sich zu einem rhythmischen Orchester: Es ist der erbarmungslose Takt des Sterbens,
der in den Betrachter gleichsam einsticht. Immer lauter wird das Rattern, es geht in das Motorknattern des Autos über, das die Soldatenröcke zum nächsten Menschenmaterial befördert, das als Nachschub an die Front gekarrt wird. Als der 17-jährige Paul Bäumer seine Uniform erhält, wundert er sich, warum ein anderer Name auf dem Etikett steht, das versehentlich nicht entfernt wurde. Es ist der Moment, mit dem ein junger Mann, ein Individuum, zum Kanonenfutter eines industriell geführten Kriegs wird
Das Besondere am Film
Es ist der charakteristische Sound dieses Films, der unter die Haut geht. Ein harter elektronischer Bass legt sich als eine Art Leitmotiv über die Bilder des Kriegs. Ein Synthesizer-Filter, der sonst bei Techno-Musik verwendet wird, filtert die Höhen heraus. Was klingt, als hätte man einen Hörsturz erlitten, zieht den Zuschauer förmlich mit in den Kampf. Edward Bergers Film gelingt es, ein Klangerlebnis zu schaffen, das den Krieg zu einer bedrängenden, geradezu physischen Erfahrung macht.
"Im Westen nichts Neues" basiert auf dem gleichnamigen Antikriegs-Roman von Erich Maria Remarque aus dem Jahr 1928, der die fürchterlichen Erlebnisse der sogenannten verlorenen Generation im Ersten Weltkrieg schildert. Junge Männer, Kinder noch, die von der Schulbank direkt an die Front geschickt wurden, um für das Vaterland zu kämpfen. Die nach zwei US-Verfilmungen (1930 und 1979) erste deutsche Verfilmung des deutschen Antikriegs-Klassikers überzeugt – auch mit ihrer detailreichen, genauen Ausstattung
Alles trägt dazu bei, ein Gefühl der Ausweglosigkeit zu vermitteln. Mensch und Natur sind vom Krieg gezeichnet – verwundet, zerrissen, vernarbt. Die Soldaten Ton in Ton mit dem dunkelgrauen Landstrich: Sie heben sich kaum mehr ab. Das Individuum löst sich auf, wird anonym in einer zerstörten Landschaft. Man spürt förmlich, wie schwer und anstrengend es für die durchnässten Soldaten ist, sich durch den Schlamm zu bewegen. Nur Pauls leere Augen blitzen hervor und lassen erkennen, dass unter all dem Dreck noch ein Mensch, viele Menschen stecken.
Die Knochenmühle mahlt, die Blutpumpe pumpt, kein einzelner der jungen Männer zählt etwas. Und doch muss jeder von ihnen allein mit dem Leid und der Schuld des Tötens fertigwerden. Außerhalb der Schlacht, wenn die Kameraden unter sich sind, kommt ihre menschliche Seite kurz zum Vorschein. Momente, die eine Verschnaufpause vom Leid gewähren. Für Regisseur Edward Berger war die "deutsche Perspektive, (...) die es im modernen Kriegsfilm eigentlich überhaupt nicht mehr gibt", Ausgangspunkt seiner Verfilmung.
"Unser Blick auf den Krieg ist geprägt von Gram und Scham, Trauer und Tod, Vernichtung und Schuld. Da bleibt nichts Positives, nichts Heldenhaftes zurück. Jeder Tod, egal auf welcher Seite, ist ein Tod und somit einfach nur schrecklich."
Erste deutsche Verfilmung
Berger stellt den Protagonisten Paul Bäumer in keine Opferrolle. Wie in der Romanvorlage bleibt seine Figur ein beobachtender Stellvertreter einer ganzen Generation, aber ohne besondere Charakterzüge. Im Kontrast zum Geschehen auf dem Schlachtfeld nimmt Bergers Film aber einen zweiten Erzählstrang auf, den es im Roman nicht gibt. Remarques Roman spielt eher am Anfang oder in der Mitte des Kriegs. Berger versetzt Pauls Erlebnisse an das Kriegsende 1918 und verknüpft die Schrecken der letzten Kriegstage mit den parallel laufenden Waffenstillstandsverhandlungen im Wald von Compiègne.
Mit der Figur des deutschen Ministers Matthias Erzberger stellt der Regisseur das Geschehen für den historisch kundigen Zuschauer in einen größeren Kontext. Einen Zivilisten haben die deutschen Generäle vorgeschickt, die Verhandlungen zu führen. Erzbergers Bemühungen, das Töten zu beenden, werden ihm wenig später selbst zum Verhängnis: Drei Jahre nach Kriegsende wird er von der rechtsterroristischen Organisation Consul ermordet.
Fazit
Bergers Neuverfilmung zeigt die Gräuel des Kriegs, ohne dabei Gewalt zu verherrlichen.
Dem Film gelingt die Gratwanderung, dem Zuschauer Unerträgliches zuzumuten, ihn dabei aber auch nicht zu überfordern.
In jedem Fall wirkt der Film lange nach und wirft Fragen auf: Wie soll ein Mensch so furchtbare Erlebnisse aushalten? Und wenn er überlebt, wie kann er mit diesem Trauma weiterleben? Was hat das mit den eigenen (Ur-) Großeltern gemacht? Was macht es mit den Soldaten, die heute an der Front kämpfen?
Bis zur letzten Minute dauert das Sterben auf dem Schlachtfeld. Während die verhandelnden Generäle und Minister an mit weißem Porzellan gedeckten Tischen Kaffee schlürfen und sich beschweren, dass die Croissants vom Vortag sind, krepieren weiter junge Männer im Morast. Für 11 Uhr am 11. November ist der Waffenstillstand vereinbart. "Zuschlagen mit aller Macht!", befiehlt ein General noch eine Viertelstunde vor dem Waffenstillstand. Für Paul Bäumer kommt er zu spät.
Im Westen nichts Neues
DER SCHRIFTSTELLER Erich Maria Remarque (1898-1970) bündelt in seinem Erfolgsroman "Im Westen nichts Neues" die Kriegserfahrungen einer ganzen Generation. Mit seinem noch minderjährigen Protagonisten Paul Bäumer beschreibt er, was in den Schützengräben der Westfront passiert, und schildert die Schrecken eines industriellen Kriegs, der mit dem Einsatz von Maschinengewehren, Panzern, Flammenwerfern und Gas die bis dahin gekannten Kriege in ihrer Brutalität überbot. Geboren wurde der Autor von "Im Westen nicht Neues" als Erich Paul Remark in Osnabrück. Seinen Nachnamen änderte er Anfang der 1920er-Jahre in Remarque, um die französischen Wurzeln seiner Familie zu betonen.
REMARQUE KÄMPFTE 1917 selbst im Ersten Weltkrieg. Nach vier Wochen endete sein Einsatz: Granatsplitter und ein Halsschuss sorgten für das Ende seines Soldatendaseins – und sein Überleben. In "Im Westen nichts Neues" verarbeitete er seine und die Erlebnisse anderer Kriegsteilnehmer. Remarques Roman erschien Ende Januar 1929. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Buch zum großen Erfolg; noch im selben Jahr wurde es in 26 Sprachen übersetzt. 1930 verfilmte US-Regisseur Lewis Milestone die Romanvorlage. Der Film erhielt zwei Oscars.
IN DEUTSCHLAND ALLERDINGS war "Im Westen nichts Neues" vielen ein Dorn im Auge. Nationalsozialistische Schlägertrupps sabotierten 1930 auf Geheiß Joseph Goebbels’ die deutsche Aufführung des US-Films am Berliner Nollendorfplatz. Sie warfen Stinkbomben und setzten weiße Mäuse aus. Der Film wurde abgesetzt und dann in einer gekürzten Fassung gezeigt. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde er schließlich ganz verboten. Bei den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten landete 1933 auch Remarques Roman in den Flammen. 1979 wurde das Buch zum zweiten Mal von einem amerikanischen Regisseur (Delbert Mann) verfilmt – diesmal in Farbe.
DIE NATIONALSOZIALISTEN setzten, um den pazifistischen Erfolgsautor zu diskreditieren, ein Gerücht zu seinem Namen in die Welt, das sich bis heute hartnäckig hält: Remark sei Jude, behaupteten sie, und heiße in Wahrheit "Kramer" – also Remark rückwärts buchstabiert (was nicht stimmt).
1933 EMIGRIERTE Erich Maria Remarque in die Schweiz. Dort starb er am 25. September 1970 in Locarno.
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