Als Tue spät in der Nacht von seiner Mutter von einer Party abgeholt wird, ist er noch ganz benommen von dem, was gerade passiert ist: sein erster Kuss. Doch die Euphorie hält nur kurz an. Denn seine Mutter kommt gerade von ihrem Liebhaber auf Fünen und möchte selber berichten.

Kein Interesse an ihrem Sohn, kein Fünkchen Empathie. Am Ende übergibt sich Tue in ihr Auto und die Situation eskaliert. Ihm wird schließlich der Auszug aus dem elterlichen Haus nahegelegt. "Frohe Weihnachten" endet das Kapitel.

Eine Szene, die alles sagt

Diese Szene steht stellvertretend für den gesamten zweiten Band der Tue-Trilogie. Ein Moment, der das ganze Buch in einem Bild zusammenfasst: Einsamkeit, Entfremdung, und die kalte Realität eines jungen Mannes, der nirgendwo hinzugehören scheint.

Dabei knüpft Korsgaard nahtlos an den ersten Teil seiner autobiografisch gefärbten Trilogie "Hof" an. Doch während "Hof" den Leser durch die Enge des ländlichen Jütlands führte, soll "Stadt" die nächsten Schritte in Tues Leben aufgreifen. Dennoch verharrt es noch über weite Teile in seinem Elternhaus, erzählt wieder und wieder von dem unfreundlichen, mittlerweile kiffenden Vater, der betrügenden und egomanen Mutter, ihren absurden Familienfesten und Renovierungsplänen.

Kälte trotz Geld: Die Familie bleibt ein Ort der Zumutung

Immerhin hat die Mutter eine hohe Entschädigung für einen Arbeitsunfall bekommen – die finanziellen Sorgen ist die Familie los. 

Doch das Zusammenleben mit den Eltern und den beiden Geschwistern bleibt von Kälte geprägt. Tue stolpert von einer prekären Situation in die nächste, beim ersten Kuss, beim ersten Mal, gegenüber seiner besten Freundin Iben, zu der er schließlich ins Studentenwohnheim zieht. Nur in wenigen Momenten kann er glücklich sein, frei sein, und sich seiner Homosexualität stellen.

Der Tiefpunkt: Straße, Schmerz, Befreiung

Erst gegen Ende wird "Stadt" dann wirklich spannend. Als Tue tatsächlich auf der Straße landet, körperlich wie emotional. Sein erstes Mal, seine Hilflosigkeit und die endgültige Trennung von seiner Familie lassen die Geschichte an Dramatik gewinnen. Und die letzten Seiten wecken die Hoffnung, dass der Abiturient nun endlich neue Wege beschreitet. Die Übersetzung des dritten Bandes "Paradies" ins Deutsche soll bis Ende des Jahres vorliegen.

Denn der 1995 geborene Autor Thomas Korsgaard ist zweifellos eine der aufregendsten neuen Stimmen der dänischen Literatur. "Hof" wurde international gefeiert und brachte ihm Vergleiche mit Karl Ove Knausgård und Édouard Louis ein. Seine Fähigkeit, autobiografische Elemente mit universellen Themen zu verweben, ist spannend, seine Erzählweise mitnehmend. Also bleiben wir gespannt.

Thomas Korsgaard: Stadt, Tue-Trilogie, 2. Band, 288 Seiten, Kanon Verlag, 24 EUR.

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