Jean Philippe Kindler macht schon in der Einleitung seines Buchs "Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf" den Kern seiner Kritik deutlich: Menschen mit grenzenlosem Vertrauen in die Macht der Märkte "bemühen immer wieder die Erzählung individueller 'Eigenverantwortung'. Wenn es mir schlecht geht, ich keine Wohnung finde, mir Altersarmut droht oder ich diskriminiert werde, soll ich mich fragen: "Wie bin ich in diese Misere reingeraten?"

Wie eine solche individuenzentrierte Grundhaltung in eine regelrechte ‚Antipolitik‘ mündet, legt der Autor in sechs Kapiteln dar, die sich mit verschiedenen Lebensbereichen befassen: Armut, Glück, Klimakrise, Demokratie, Linkssein und "das gute Leben".

"Armut wie Reichtum (…) müssen wir als politisch geschaffen verstehen" 

Schon das erste Kapitel macht sprachlos. Es geht um die viel zitierte angebliche ‚Gratismentalität‘, die für das 9-Euro-Ticket gilt, nicht aber für 84,4 Milliarden Euro leistungslos vererbtes Vermögen, und um die Drohkulisse der Arbeitslosigkeit, die selbst den schlechtbezahltesten Job attraktiv erscheinen lässt. 

Der Autor schreibt, es sei "heutzutage geradezu obszön ist, sich für die politische Sicherstellung eines bedingungslos guten Lebens einzusetzen", und hat mit dieser scharfen Formulierung angesichts des Gezerres um Bürgergeld, Bahnticket und Mietpreisbremse wohl recht.  

Zudem stellt Kindler das ehrenamtliche Engagement für Bedürftige in Frage. Damit will der Autor jedoch nicht die einzelnen Ehrenamtlichen angreifen, die diese Struktur am Laufen halten, sondern er formuliert einen Anspruch, dem sich ein Staat, der sich Sozialstaat nennt, durchaus stellen sollte:

"Die Existenz ehrenamtlicher Vereine, wie es die Tafeln oder die Berliner Stadtmission sind, ist bereits der sozialpolitische Skandal. (…) …die Grundversorgung von Menschen kann und darf nicht von Ehrenamtlichen geschultert werden."

Das gute Leben als Ware 

In den meisten Kapiteln seines Buches kritisiert Kindler vor allem die politischen Verhältnisse, die Regierung und die Anhänger des Neoliberalismus. In den Kapiteln über das Glück und das "gute Leben" spricht er jedoch direkt den Einzelnen an.

"Glück ist kein Empfinden mehr, welches politisch hergestellt wird", schreibt der Autor, sondern werde als Folge des eigenen Handelns und der eigenen Verantwortung begriffen:

"Die Frage ‚Wie geht es mir?‘ ist durchgehend in radikaler Weise anwesend."

Wer kann sich diese Auseinandersetzung mit dem Glück zeitlich und finanziell leisten? Eine gehobene Mittelschicht, die über genügend Ressourcen für Kakao-Zeremonien und Glückscoaches verfügt.  

Auch die Liebe und die Beziehung zu anderen Menschen sei dieser kapitalistischen Wachstums- und Leistungslogik unterworfen, schreibt Kindler. Das zeige sich unter anderem an Dating-Plattformen wie Tinder, Bumble und Co, auf denen Menschen wie Konsumgüter nach rechts (brauchbar) oder links (unbrauchbar) sortiert werden.

Ein Aufruf zur Repolitisierung, der Mut macht  

Auch wenn auf 145 Seiten viele erschreckende Zahlen und Fakten zu finden sind und sich beim Lesen neue Sichtweisen auftun, die gesellschaftspolitische Schieflagen in einem noch schlechteren Licht erscheinen lassen, macht Kindlers Streitschrift Mut. Der Autor schreibt:

"Wenn ich für eine Repolitisierung des guten Lebens argumentiere, so will ich damit eben nicht einer Lebensführung das Wort reden, die auf Realitätsflucht, exzessiven Erlebniskonsum und schnöden Hedonismus setzt. Ich für meinen Teil bin nicht interessiert an einem Rückzug in die Introspektion, ich möchte mich im Gegenteil radikal verbunden fühlen."  

Es ist diese Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Zusammenhalt, die Mut macht. In der heutigen Zeit laufen wir schnell Gefahr, alles alleine machen zu wollen und uns für unser Leben zu verantwortlich zu fühlen.

Verantwortung abgeben im Vertrauen auf Gott  

Was Jean-Philippe Kindler für die Politik formuliert, lässt sich übrigens auch für den Glauben und die Spiritualität weiterdenken. Was, wenn wir für unser Glück und unsere Zufriedenheit gar nicht nur selbst verantwortlich sind? Was, wenn wir keine teuren Ratgeber und Kurse brauchen, um ein sinnerfülltes Leben zu führen?  

Verantwortung abgeben, sich nicht in Sorgen und Ängsten verlieren, sondern Vertrauen einüben – dieser Ansatz ist tief im christlichen Glauben verwurzelt. Und auch die Gemeinschaft als wesentlicher Teil religiöser Praxis kann Halt geben und stärken.  Es tut schließlich gut zu wissen, dass wir mit unseren Nöten, seien sie weltlicher oder geistlicher Natur, nicht alleine sind.

 Jean-Philippe Kindler. Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Rowohlt Taschenbuch 2023. 160 Seiten. 12 Euro.

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