South Kilburn liegt im Nordwesten Londons, oberhalb des Kensington Palace. Seine Bevölkerung besteht zu großen Teilen aus Einwanderern aus Afrika und dem Nahen Osten. Die Architektur ist von elf großen, brutalistischen Wohntürmen geprägt. Die Kriminalitätsrate ist hoch, soziale Probleme, Armut und Arbeitslosigkeit weitverbreitet.
Gabriel Krauze – Spitzname Snoopz – wächst genau hier bei seinen Eltern, polnischen Einwanderern, mit seinem Bruder auf. Doch obwohl schlau und begabt, zieht es ihn zu den Gangs auf die Straße. Als er mit dreizehn Jahren von einer Gruppe Jugendlicher mit einem Messer am Hals bedroht und "abgezogen", also beklaut, wird, schwört er Rache.
Sein Buch "Beide Leben" basiert auf seinen Erfahrungen als Krimineller, die er erst in Kurzgeschichten in der Zeitschrift Vice verarbeitete und nun zum ersten Mal in einen Roman gegossen hat.
Keine Reue
Krauzes Erzählung beginnt mit dem Überfall auf eine reiche Frau, die er und sein Freund Gotti vor ihrer eigenen Haustür erreichen. Ihr Ziel: eine Cartier-Uhr im Wert von etwa 15.000 Pfund und ihr Diamantring. Doch alles geht diesmal schief: Uhr und Ring lösen sich nicht und auf einmal steht der Ehemann mit einem Baseballschläger vor ihnen. Sie fliehen, ihr Freund Tyrell steht mit einem Fluchtwagen schon bereit. Ihnen bleibt die Handtasche, der Frau ein gebrochener Arm, womöglich ein zerstörtes Handgelenk und eine schlimme Gewalterfahrung.
Doch das kratzt weder Snoopz, noch Gotti, noch ihre vielen Freunde mit ähnlichen Kampfnamen. Ganz im Gegenteil:
"Wir hecheln noch mal alles durch, was abging und wies klang, als die Tür auf ihren Arm geknallt ist, und wir lachen drüber (…). Es gibt keine Reue, keine Gewissensbisse."
Der Großteil des autobiografischen Romans handelt auf knapp 400 Seiten von bewaffneten Raubüberfällen, Einbrüchen und Messerstechereien - kalt, berechnend und ohne Reue geschildert. Mag die erste Tat noch aus Rache geschehen sein, so wird Snoopz zunehmend in einen Rausch gezogen: immer brutaler, immer häufiger werden seine Taten.
Seine Eltern sind liebevoll, aber langweilen ihn. Die Mutter arbeitet als Krankenschwester, der Vater als Handwerker, beide sind künstlerisch aktiv. Sie wachsen in sehr ärmlichen Verhältnissen auf und sorgen sich um ihren Sohn. Doch gegen sein zweites Leben sind sie machtlos.
Als Snoopz ins Gefängnis kommt, besuchen sie ihn, als sie ihn mit Marihuana zuhause erwischen, halten sie ihm zwar eine Standpauke, aber geben ihm auch ein paar Ferrero Rocher und ein bisschen Essen mit. Nichts wünschten sie sich mehr für ihren Sohn, als einem geregelten Leben nachzugehen.
Doppelleben und Desillusionierung
Denn der Junge hat Potenzial, schließlich studiert er "nebenbei" Englische Literatur an der Queen Mary University of London. Hier bewegt er sich in einer völlig anderen Welt, in der auch seine Dozenten und Kommilitonen nichts von seinem Doppelleben ahnen. Gabriel ist fasziniert von Literatur, insbesondere von Werken über Gewalt, Macht und Moral und schließt das Studium trotz Gefängnisaufenthalten und anderer Hindernisse erfolgreich ab. An seinem Lebensstil ändert es jedoch nichts.
Immer wenn seine Eltern ihn rausschmeißen, bietet ihm ein älterer Krimineller, Uncle T, Heimat: ein Bett, gutes Essen und ein paar Joints. Auch er war ein gefürchteter Krimineller, der aber mittlerweile körperlich stark eingeschränkt und vereinsamt ist, denn der erste Sohn liegt mit Locked-In Syndrom im Krankenhaus, der zweite sitzt seit mehr als zehn Jahren im Gefängnis.
Am Ende wird Snoopz von seinem besten Freund und Gang-Bruder Gotti beklaut und alleingelassen, so dass er schließlich selber zum Opfer der Gangs wird. "Schläge, Tritte treffen auf meine Arme. Ich versuche sie abzublocken, weiche aus, es ist, als ertränke ich, als könnte ich mich nicht mehr befreien und dann kommt einer von der Seite und gräbt mir seinen Finger ins rechte Auge. Ich zieh ihn raus, weil er es voll eindrückt, der rechte Augapfel wird mir tief in den Kopf gedrückt."
Vorbei die Gang-Romantik, vorbei das Gemeinschaftsgefühl und die Räusche. Zerschlagen die Illusionen, auf den Straßen Londons ganz groß rauszukommen, reich zu werden oder ganz oben in der Hierarchie zu stehen. Seine Weggefährten sitzen überwiegend im Knast, einige sind tot, die meisten ohne Hoffnung oder Ausweg aus diesem Leben. Da trifft er einen Nachbarn mit seiner Tochter, der den Ausstieg geschafft hat, die Ausnahme von der Regel, aber eine Hoffnung.
Starker Tobak
Gabriel Krauzes Stil ist roh, direkt und voller Straßenslang – eine Sprache, die wohl genauso rücksichtslos ist wie die Welt, die sie beschreibt. Die Brutalität der Schilderungen ist nahezu körperlich spürbar – die Gewalt zieht sich durch das Buch wie ein endloser Adrenalinrausch. Rund 80 Prozent des Textes bestehen aus Szenen von Kriminalität, Drogenkonsum und dem ständigen Kreisen um Macht, Respekt und Loyalität im Straßenleben.
Ich fühle mich an Larry Clarks Film "Kids" erinnert – eine Welt ohne Grenzen, ohne Sicherheit, in der Moral keine Rolle spielt und die Härte des Lebens jeden Moment zuschlägt. Das ist ebenso fesselnd wie erschütternd – und auch abschreckend.
Bedauerlicherweise bleibt die Zerrissenheit in Gabriels Doppelleben merkwürdig unterentwickelt. Sein Studium der Englischen Literatur, das eigentlich den Kontrast zur Straße bilden sollte, kommt viel zu selten vor, ebenso wie innere Konflikte. Man wünscht sich gerade auf den ersten 350 Seiten mehr Einblick in die Gedankenwelt eines Mannes, der tagsüber Baldwin und Nietzsche liest und nachts bewaffnete Raubüberfälle begeht.
So bleibt "Beide Leben" vor allem ein schonungsloser, verstörender Erfahrungsbericht – eine ungefilterte Momentaufnahme einer Realität, die sich nur wenige vorstellen können. Das macht das Buch auf seine Weise authentisch, aber es verschenkt auch die Chance auf eine tiefere Auseinandersetzung mit der Tragik dieser Schattenwelt.
Gabriel Kauze: Beide Leben, Kein und Aber Verlag, 2021, Zürich, 384 Seiten, 23 Euro.
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