Wer die frühen Werke von Martin Walser liest, etwa den ersten Roman "Ehen in Philippsburg" von 1957, fühlt sich in eine andere Welt versetzt. Die Hauptfigur, ein junger Student auf Arbeitssuche, darf keinen "Damenbesuch" auf seinem Zimmer empfangen. Die soziale Kontrolle funktioniert, Moral und Welt sind eng und klein. Irgendwann beginnt der soziale Aufstieg, der kleinbürgerliche Mief ist lästig, aber die Probleme sind nicht existenziell. Der Zweite Weltkrieg ist noch präsent, doch das Wirtschaftswunder nimmt Fahrt auf.

Die Welt der kleine Angestellten, Akademiker, Sekretärinnen, mittelständischen Unternehmer - das ist die Republik, die Walser in seinen frühen Romanen beschreibt. Über "Halbzeit", den ersten Roman einer Trilogie über den Werbefachmann Anselm Kristlein, urteilte der Kritiker Reinhard Baumgart:

"Ein Buch, das reicher wäre an Ansichten von unserer Wohlstandsgesellschaft, ist in Deutschland noch nicht geschrieben worden."

Martin Walsers erste literarische Texte sind real und ungeschminkt

Am 24. März wird Martin Walser 95 Jahre alt, er kam 1927 in Wasserburg am Bodensee zur Welt. Er hat alle großen deutschen Literaturpreise bekommen und gilt international als einer der Hauptvertreter der deutschen Literatur nach 1945 und im vereinten Deutschland.

Politisch stand Walser jahrzehntelang auf der linken Seite. Mit der Studentenbewegung protestierte er gegen den Vietnamkrieg, verfolgte die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main und stand der DKP nahe - ohne Mitglied zu sein. Aber trotz aller Politisierung versuchte er in seinen literarischen Texten immer, reale, ungeschminkte Erfahrungen zu beschreiben. Was er 1998 in einem Interview sagte, lässt sich auf das gesamte Werk übertragen: "Die Existenzmitteilung, die rücksichtslos ist gegenüber fast allem Gesellschaftlichen, das ist der reinste Ton, den die Prosa erreichen kann."

Walsers literarische Existenzen sind oft Einzelgänger, Figuren, die ihre Bindungslosigkeit als Last empfinden, aber nicht aus ihrer Haut können, Anti-Helden im Angestelltenbüro oder mit Beamtenstatus. Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki schrieb: "Walsers frühe Geschichten sind zeitkritische Diagnosen und Proteste gegen einen Zustand, der das Individuum an seiner Entfaltung hindert, es verkümmern lässt und zugrunde richtet."

In späteren Werken werden die Schauplätze internationaler

Aber diese Diagnosen ändern sich mit der Republik, die Schauplätze werden internationaler. Der Lehrer Helmut Halm etwa, in "Brandung" (1985), versucht, sein bundesdeutsches Unwohlsein in Kalifornien zu kurieren. Andere leiden an der Rezession wie der Immobilienmakler Gottlieb Zürn in "Das Schwanenhaus" (1980) und "Jagd" (1988).

Mit der Novelle "Dorle und Wolf" (1987) über die deutsche Teilung fand Walser das Thema für die nächsten Jahre, und damit auch die Kontroversen, die sein literarisches Werk überschatten sollten. Walser war immer ein Vielschreiber, zuverlässig erschien fast jedes Jahr ein neues Buch, allerdings nicht immer zum Wohlgefallen der Kritik.

Kritik an der Arbeit Martin Walsers

Marcel Reich-Ranicki lästerte einmal im "Literarischen Quartett": "Er stolpert von einer Niederlage zur nächsten und ist unaufhörlich ein bekannter, ein eigentlich immer berühmter werdender Schriftsteller. Das hat Gründe. Und einer der Gründe ist gerade das, was ihm sehr verübelt wird: dass er nicht aufhört, regelmäßig Bücher zu publizieren."

Richtig verübelt allerdings wurde ihm kein Buch, sondern eine Rede. Als er 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, sagte er:

"Kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt."

Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, konterte am folgenden Tag, das sei "geistige Brandstiftung" gewesen.

Vier Jahre später gingen die Turbulenzen um Walser weiter. "Tod eines Kritikers" erschien, wurde als Schlüsselroman gelesen, als eine sich antisemitischer Klischees bedienende Abrechnung mit dem Dauerkritiker Reich-Ranicki. Was folgte, war einer der größten Aufreger des deutschen Literaturbetriebs. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher lehnte den Vorabdruck ab. Hellmuth Karasek hatte ein "Dokument eines schier übermenschlichen Hasses" gelesen und Jan Philipp Reemtsma sah bei Walser einen "Kontrollverlust" am Werk.

Walsers Bücher seit der Jahrtausendwende

Der so Gescholtene wechselte von Suhrkamp zu Rowohlt, schrieb fleißig weiter Bücher, die vor allem "die Unschuld der Erinnerung" (Walser) vermitteln sollten. In "Ein liebender Mann" (2008) ging es um die Liebe des alternden Goethe zu einer jungen Frau, in "Ein sterbender Mann" (2016) darum, dass das Lebensglück auch wachsen kann, wenn der Tod näher rückt.

Walser ist seit 1950 verheiratet. Aus der Ehe gingen die Töchter Franziska, Johanna, Alissa und Theresia hervor, er ist außerdem leiblicher Vater von Jakob Augstein. Seiner Heimat am Bodensee ist er treu geblieben. Dort spielt auch sein berühmtestes Buch "Ein fliehendes Pferd" (1978).

Die Kritik wird nun wohlwollend, die Jahre des Streites sind vorbei. In "Sprachlaub" (2021) heißt es: "Wer's jetzt noch eilig hat, ist ein Narr." Nun, so scheint es, ist Martin Walser für große Altersweisheiten zuständig.