Es ist eine ganze Reihe an Superlativen, die man sich auf dem Areal der rund um das Jahr 1805 aufgehobenen Benediktinerabtei des Klosters St. Gallen erschließen kann. Da ist zuallererst die um 719 gegründete Stiftsbibliothek, ein ehrwürdiger Rokoko-Saal mit einzigartiger, multireligiöser Bildsprache in den Deckenmalereien, Putten, Kunstwerken, rund 170.000 Büchern und etwa 2000 originalen Handschriften, den man nur mit Filzpantoffeln betreten darf, um den holzgetäfelten Boden nicht zu verkratzen. Klosterarchive hatten jahrhundertelang einen Status, der heute vielleicht mit dem Grundbuchamt zu vergleichen ist: Was einmal hier eingelagert wird, bleibt ewig.

Im Gegensatz zu vielen anderen Klöstern, die aus Platzgründen dazu übergingen, Abschriften ihrer Dokumente zu erstellen und auf diese Weise die Inhalte zu katalogisieren, setzte man in St. Gallen lange Zeit auf die Originale. Mit dem Ergebnis, dass heute an diesem Ort noch viele ursprüngliche Dokumente erhalten sind. Zum Beispiel auch Urkunden, welche die Übernahme eines Patroziniums oder Schenkungen beglaubigen – wie im Falle der bayerischen Städte Wangen im Allgäu, Dettelbach (Unterfranken) oder das mittelfränkische Pappenheim.

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Die St. Gallener Stiftsbibliothek ist ein eindrucksvolles Bauwerk.

Fast 3000 Jahre alte Mumie in der Bibliothek

Die Bibliothek wartet aber auch mit einem heute ungewöhnlich anmutenden Exponat auf: Die Mumie der Schepenese, einer zwischen 700 und 650 v. Chr. in Theben lebenden Priestertochter, die mitsamt ihrem reich bemalten Innen- und Außensarg 1821 nach St. Gallen gelangte. "Es war im 18. und 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, dass sich Bibliotheken mit solchen außergewöhnlichen Stücken schmückten", erklärt Bibliothekarin Sabine Bachofner. Museen gab es kaum, und Orte wie Bibliotheken galten als Schatzkammern, nicht nur für Bücher. Im Naturmuseum St. Gallen, neben dem Textil-, dem Kunst- oder dem Bierflaschemuseum eine der weiteren Attraktionen des rund 80.000 Einwohner großen Ortes, findet man sogar ein Nilkrokodil aus dem Jahre 1623 und das nahezu vollständige Skelett eines Edmontosaurus.

Die wahren Schätze der Stiftsbibliothek lagern aber in den beiden anderen Teilen des Komplexes. Im Ausstellungssaal wird der vermutlich zwischen 819 und 826 im Kloster Reichenau entstandene Plan des Klosters St. Gallen präsentiert. Die früheste noch erhaltene Darstellung dieser Art auf Pergament. Für den Plan wurde ein eigener Raum gebaut, in dem das Dokument nach einem Film für 20 Sekunden unter einer Schutzvorrichtung auftaucht und leicht beleuchtet wird. Ein echtes Aha-Erlebnis, wie auch die multimediale Erfahrung, die der Besucher beim Bestaunen des Professbuches aus der karolingischen Zeit des Klosters oder weiteren Stücken macht.

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Die Mumie der Schepenese nebst ihrem Sarg wurde der Bibliothek vor 200 Jahren vermacht.

Ältestes Buch in deutscher Sprache

Im Gewölbekeller geht’s weiter: Dort wird der "Codex Abrogans" gezeigt, das aus dem Jahr 911 stammende älteste erhaltene Buch in deutscher Sprache. Daneben findet man originale Neumenhandschriften mit den ersten Versuchen, Musik zu notieren oder das Karl dem Großen als Besitzer zugeschriebene "Evangelium longum", das um 894 entstand und den größten bekannten Einband aus Elfenbein besitzt – ein Stoßzahn eines "gewöhnlichen Elefanten" in der Ausstellung macht einen Eindruck, wie groß der Elefant gewesen sein muss, der das Elfenbein für die reichhaltigen Intarsien lieferte, mit denen das Evangelistar ausgestattet wurde.

Wäre der irische Mönch Gallus im Jahr 612 nicht, wie die Legende besagt, im Steinachtal über eine Wurzel gestolpert und hätte dies nicht als Zeichen Gottes gesehen, an dieser Stelle eine Kirche zu errichten – St. Gallen wäre wohl nie so entstanden. Gelebt hat Gallus wirklich, und er errichtete in der unwirtlichen Einsiedelei, um die herum dann der heutige Stiftsbezirk und die Stand entstanden, dann auch eine erste Hütte, der weitere Ansiedelungen folgten. Rund 100 Jahre später war es dann aber der Abt Otmar, der den Grundstein für das heutige Kloster legte. Seine Nachfolger sorgten dafür, dass das Areal erweitert, nach Bränden und Plünderungen immer wieder neu aufgebaut wurde und an Bedeutung gewann, bis es schließlich eines der geistigen Zentren Europas wurde. Auch die Reformation, die unter dem noch heute in St. Gallen verehrten Humanisten Joachim von Watt (auch Vadian genannt) bereits um 1525 Einzug hielt, konnte der Fürstabtei nicht viel abhaben. "Der Bildersturm blieb sanft, die Stadt wurde zwar evangelisch, doch rundherum hatte der Fürst auf den Dörfern weiterhin das Sagen", sagt Hans Haselbach, der regelmäßig Touristen durch die Stiftsabtei führt und sich gerne in der Bibliothek eigenen Studien hingibt.

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Die Stiftskirche ist ein beeindruckendes Beispiel der Baukunst im Rokoko.

Nachdem das Kloster zwischen 1527 und 1531 kurzzeitig aufgehoben war, erlebte es bald darauf eine weitere Blüte und Expansion als zentral organisierter Territorialstaat. Mit dem Neubau der Klosteranlage zwischen 1755 und 1767, wie sie der Besucher heute noch im prunkvollen wieder findet, und dem Bau der heutigen Stiftsbibliothek im Jahr 1758 erreichte diese Phase ihren Zenit, in der die Äbte eine von der Schweizerischen Eidgenossenschaft unabhängige Politik betreiben konnten. 1803 war dann aber Schluss: Am 19. Februar gründete Napoleon Bonaparte den Kanton St. Gallen, das Kloster wurde säkularisiert.

Einzigartiges Verfahren bei der Wahl des Bischofs

Heute lebt kein Mönch mehr auf dem Gebiet des Stiftsbezirks. Allerdings wird hier nahezu täglich wenigstens einmal Gottesdienst gefeiert, zu dem auch viele Touristen kommen. Die Kathedrale ist Sitz des Bischofs des 1847 gegründeten Bistums St. Gallen. Der amtierende Bischof Markus Büchel wurde 2006 in einem in der katholischen Welt bis heute einzigartigem Verfahren gewählt: Das Recht zur Wahl liegt hier nämlich beim Domkapitel und bietet den Laien eine Mitsprachemöglichkeit bei der Auswahl der Kandidaten, indem diese "minder genehme" Personen nach Vorlage von einer Liste streichen können. Immerhin findet man in der Stiftskirche, die auf den Gebeinen des Heiligen Gallus gebaut wurde, aber noch einen Hinweis auf den Gründer: An der Wand neben dem rechts im Chorraum stehenden Gallus-Altar findet man die älteste Glocke der Schweiz, die genietete "Gallusglocke", die wohl aus dem 7. Jahrhundert stammt die der Mönch auf seiner Reise von Irland in die heutige Schweiz mit dabei gehabt haben soll.

Noch mehr Sehenswürdigkeiten

Neben dem Stiftsbezirk gibt es für kircheninteressierte Besucher noch einiges mehr zu entdecken: Gleich angrenzend findet man die Kirche St. Laurenzen, die evangelisch-reformierte Pfarrkirche der Stadt St. Gallen. Ihr Grundstein wurde wahrscheinlich bereits in der Mitte des 12. Jahrhunderts gelegt. Sie steht unter eidgenössischem Denkmalschutz und gilt als Baudenkmal von nationaler Bedeutung. Die heutige Kirche im neugotischen Gewand entstand in den Jahren zwischen 1850 und nach Plänen von Johann Georg Müller aus Mosnang und wurde bis 1979 umfassend restauriert. Sie  bietet Platz für 1000 Personen.

Im Stadtteil St. Mangen hat die "Eglise francaise" in der gleichnamigen Kirche seit 1979 eine neue Heimat gefunden. Seit der Reformation gehört die Kirche, deren früheste Gestalt erstmals im Jahr 896 urkundlich erwähnt wurde, der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde. Das überdimensionale Gesicht einer Brasilianerin ziert die "Offene Kirche" in der ehemals neugotischen Kirche St. Leonhard, nur wenige Meter weiter. Seit 1998 versucht dort der Verein "Wirkraum Kirche" eine Grenzwanderung zwischen liturgischem und städtischem Raum durch eine Vielfalt von Veranstaltungen in einem interkonfessionell und interreligiös offenen Rahmen. Jedoch soll an dieser Stelle in den kommenden Jahren Neubauten der Universität entstehen.

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Die Elfenbein-Einlassung des "Evangelim Longum" ist aus einem Stück Stoßzahn gemacht.

Wer auch noch weitere Seiten von St. Gallen kennen lernen will, dem sei das Museumsviertel im Stadtpark empfohlen. Aber auch eine Fahrt mit der kleinen Mühleggbahn, ein Schrägaufzug, der die Altstadt von St. Gallen mit dem Naherholungsgebiet Drei Weieren und dem Ortsteil St. Georgen auf dem südlichen Hügel von St. Gallen verbindet, lohnt sich. Das kulinarische Angebot in der Stadt ist vielfältig – wer typisch regionale Spezialitäten schmecken möchte, der greift zur originalen St. Galler Bratwurst, die mit Speck, Gewürzen und Milch angereichert ist und ausdrücklich ohne Senf gegessen wird, oder die "Chäsküchli", kleine Kuchen mit Käsefüllung.

Abstecher nach Lindau am Bodensee

Auf der Reise nach St. Gallen empfiehlt sich zudem ein Abstecher zum "Rheinfall" in Schaffhausen, mit 23 Meter Höhe und 150 Meter Breite einer der größten und wasserreichsten Wasserfälle Europas. Außerdem kommt man nahezu unweigerlich durch Lindau am Bodensee. Die Insel und ehemals freie Reichsstadt mit ist gerade in den Sommermonaten von Touristen bevölkert. Ruhe und Ablenkung findet man aber in den beiden nebeneinander stehenden Kirchen St. Stephan (evangelisch) und "Unserer Lieben Frau" (katholisch). Geheimtipp hier für Kirchenfreunde ist die etwas abseits gelegene Peterskirche, deren Ursprünge bereits auf das 11. Jahrhundert zurück gehen und die mit eindrucksvollen Wandmalereien aufwartet, die Hans Holbein d. Ä. zugeschrieben werden.

INFO: Weitere Informationen über St. Gallen und seine touristischen Angebote gibt es beim Tourismusbüro, das direkt gegenüber des Stiftsbezirks liegt.

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Prachtvolle Wandmalereien in der Peterskirche Lindau.