Ein strahlender Herbsttag im Gebirge: Vor dem Oberammergauer Passionstheater hat sich das halbe Dorf versammelt, dazu einige Prominenz, die "hohe Geistlichkeit", wie man hier sagt, viele Kameras und Journalisten. Gerade haben die Oberammergauer in einem ökumenischen Gottesdienst ihr Gelübde erneuert: Sie werden auch 2020 wieder das Passionsspiel vom "Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus" auf die Bühne stellen. Nun gibt Spielleiter Christian Stückl die mit Spannung erwartete Besetzung der 21 Hauptrollen bekannt.
Als die mit Schönschreiben beauftragte Magdalena Rödl – blond, im Dirndl und die erste Frau überhaupt, die das darf –, als die Holzbildhauerin also die Kreide auf die schwarze Schiefertafel setzt und sorgfältig zuerst ein "C" und dann ein "e" hinter den Rollennamen Judas schreibt, brandet Jubel auf. Hinten in der Menge, dort, wo die Dorfjugend steht, wissen sie bereits: Es kann kein anderer sein als der 18-jährige Cengiz Görür. Der erste Oberammergauer türkisch-muslimischer Herkunft in einer Hauptrolle bei den Passionsspielen. Vorne in der ersten Reihe murrt einer, aber nur leise: Das sei eine "Provokation". Sein Ärger habe nichts damit zu tun, dass Cengiz Muslim sei. Die Familie sei einfach noch nicht lange genug am Ort ansässig, meint der ältere Herr, der selbst ein Zugezogener ist.
Katholiken, Protestanten, Muslime
Nur, dass die Familie Görür schon seit 1971 und in der dritten Generation in Oberammergau lebt, länger als seine eigene Familie, gibt später Carsten Lück zu bedenken. 1990, bei Stückls erstem Passion (in Oberammergau heißt es nicht "die", sondern "der Passion") war es Lück, der den Judas spielte. Als erster Protestant in einer Hauptrolle.
2020 wird Lück einen der beiden "Pilatusse" spielen. Jede Rolle wird doppelt besetzt, weil keiner allein die 109 Aufführungen allein stemmen kann, die von Mai bis Oktober 2020 zu bestreiten sind. Wer bei der Premiere auf die Bühne darf, entscheidet das Los. Der ausdrucksstarken Judas-Rolle trauert Lück etwas hinterher. Aber wenigstens dürfe er, sagt er lachend, sich diesmal rasieren und die Haare schneiden, er ist jetzt ja Römer. Schon am Aschermittwoch 2019 ist nämlich wieder "Barterlass": Bis zu den Passionsspielen lassen sich dann alle Mitwirkenden die Haare und die Männer auch die Bärte wachsen. Und das sind nicht wenige: Etwa 2.300 von 5.200 Oberammergauern werden an den Passionsspielen beteiligt sein. Die haarige Tradition ist der Grund, warum sich auf die Rollen der Römer überdurchschnittlich viele Oberammergauer bewerben.
In der Judas-Rolle der erste Protestant und der erste Muslim
Als damals der evangelische Carsten Lück erstmals mit einer Hauptrolle bedacht wurde, habe der katholische Ortspfarrer noch den Weltuntergang prophezeit, erinnert sich Stückl. Den Vorwurf, mit der Judas-Besetzung provozieren zu wollen, weist Christian Stückl entschieden von sich: "Alle, die mitspielen, sind Oberammergauer", betont er, "wir fragen auch nicht, ob einer aus der Kirche ausgetreten ist."
"Ich jedenfalls bin wirklich katholisch", bekennt Stückl lachend – und meint damit das Theatralisch-Bildreiche in den Gottesdiensten und Kirchen seiner oberbayerischen Eingeborenenreligion. Seine Oma sei ja evangelisch gewesen, erzählt er, und habe ihn immer in den evangelischen Gottesdienst mitnehmen wollen. Einmal und nie wieder: Mit der Begründung "Evangelisch ist langweilig" habe er künftig abgelehnt.
Christian Stückl, inzwischen 56, ist ein Glücksfall für Oberammergau. Das müssen sogar seine Kritiker im Ort zugeben. Alte Zöpfe hat er abgeschnitten. Auch vermeintliche Tabubrüche haben ihn nicht geschreckt. Vor 30 Jahren spielte unter seiner Leitung erstmals eine verheiratete Frau die Maria. Und vor drei Jahren stellte er Abdullah Kenan Karaca als zweiten Spielleiter vor, auch er ein Oberammergauer türkisch-muslimischer Herkunft. Karaca wird 2020 als jüdischer Jesus-Freund auf der Bühne stehen: Er spielt den Nikodemus.
Der Stückl-Klüngel
Stückl, Intendant des Münchner Volkstheaters, arbeitet inzwischen seit Jahrzehnten erfolgreich mit einem festen Kreis Oberammergauer Künstler – nicht nur in Oberammergau. Der Komponist und Dirigent Markus Zwink als musikalischer Leiter der Passionsspiele, Stefan Hageneier für Bühnenbild und Kostüme, auch Pressesprecher Frederik Mayet, der nach 2010 auch 2020 wieder als Jesus zu sehen sein wird – wer einmal zum Stückl-Klüngel gehört, findet sich in einem künstlerischen Biotop dauerhafter Beziehungen wieder.
Im Gemeinderat wirft man Stückl immer wieder vor, dass er manche Oberammergauer geflissentlich übersehe. Aber zu einem Veto gegen seine Besetzungen kam es nie. Auch das gehört zur kontinuierlichen Stückl-Revolution in Oberammergau: 1990 bestimmte noch der Gemeinderat die Hauptrollen, heute ist davon nur noch ein eher theoretisches Veto-Recht geblieben. Wer spielt, bestimmt der Theatermann Stückl.
Wichtig ist dem, "dass wir immer wieder junge Leute reinbringen", damit keine Generation für die Passionsspieltradition des Orts verloren geht. Damit das funktioniert, hat Stückl das lüftlbemalte Gebirgsdorf zu einer Theater-Talentschmiede weiterentwickelt, deren Ausstrahlung weit über Oberammergau hinausreicht.
Talentschmiede Oberammergau
Sophie Schuster (23), eine neue Maria Magdalena, hat unter der Regie von Abdullah Karaca ihr Können schon 2017 in einer feinen "Geierwally"-Inszenierung unter Beweis gestellt. Und Rochus Rückel (22) glänzte in diesem Sommer in Stückls Oberammergauer Schiller-Inszenierung als "Wilhelm Tell". Für nicht wenige Passionsspiel-Auguren ein Hinweis auf seine kommende Hauptrolle. Auch Cengiz Görür war im "Tell" in einer Hauptrolle dabei: Er reichte als "Arnold vom Melchtal" dem alten und neuen "Jesus" Frederik Mayet die Hände zum Rütlischwur.
"Das Fürchterlichste aber ist die Sprache (…). Man bekommt Kopfschmerzen über diese Prosa, die Seekrankheit über diesen Versen und begreift, warum das Vorspiel gleich im zweiten Vers die Hörer als ›ein von Gottes Fluch gebeugtes Geschlecht‹ anspricht", ätzte der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, nachdem er 1910 das Passionsspiel gesehen hatte. Am historischen Text haben Stückl und der langjährige zweite Spielleiter Otto Huber schon immer gefeilt und gearbeitet, versucht, dessen judenfeindlichen Zungenschlag zu entsorgen. Der Prologsprecher Otto Huber ist nicht mehr dabei. Stückl wird nun die Prologe ganz streichen. Er findet, "dass irgendwelche frommen Sprüche aufzusagen nicht mehr zeitgemäß ist". Das hatte einen empörten, aber am Ende vergeblichen Gemeinderatsantrag der Freien Wähler zur Folge.
Mehr Leben Jesu, weniger Leiden
"Wir arbeiten immer wieder neu am Passionsspiel", sagt Stückl. War ihm vor 30 Jahren noch die rebellische Seite des Galiläers besonders wichtig, so soll diesmal die Botschaft Jesu eine "viel größere Rolle" spielen, also Jesu Leben und weniger sein Leiden, Sterben und Auferstehen. Da hat er wiederum Feuchtwanger an seiner Seite, der 1910 auch bemerkte: "Es ist hier nicht der Ort, darzulegen, welches Gesamtbild Christi die Evangelien ergeben: Aber so viel ist klar, dass sie ihn kämpfend für eine große Sache, gegen eine große Sache, nicht nur leidend darstellen."
Der 18-jährige Cengiz weiß, welche Fragen nun kommen werden, und beantwortet sie souverän. Er trete jeder Religion mit Respekt gegenüber, auch seiner eigenen. Er finde, das Wichtigste am Passionsspiel sei der Zusammenhalt als Oberammergauer, da wolle er dazugehören, und da gehöre er dazu.
Es ist so eine Sache mit dem "Mia san mia"
Sein Großvater kam Mitte der 1960er-Jahre als Gastarbeiter nach Murnau, wo er als Koch in der Kaserne Arbeit fand. Cengiz’ Vater Erol ist – wie Stückls Vater – Wirt: Er betreibt ein Hotel und eine Gaststätte, das zwischen Bahnhof und Passionstheater liegt. Auch Erol Görür hätte als junger Mann schon gerne mitgespielt. "Aber das ging nicht, da war ich der Muslim", sagt er.
Es ist eben so eine Sache mit dem bayerischen "Mia san mia". Über das genetische und kulturelle Mischvolk der Bayern hat der Kabarettist Bruno Jonas einmal gesagt, es bestehe aus "Herübergekommenen, Heruntergekommenen und Zurückgebliebenen". Er meinte damit die Völkerwanderungen der Kelten und Römer ebenso wie neuere Zuzüge durch Vertriebene und Nordlichter.
Darf man den neuen jugendlichen Jesus Rochus Rückel mit seinen schwarzen Locken in die Kategorie der "Zurückgebliebenen", also der Nachfahren von aus Italien stammenden Bayern mit "römischen" Wurzeln, einordnen? Auch Spielleiter Stückl könnte man vom Aussehen einer "südländischen" Kategorie zuschlagen, auch wenn die Haare langsam grauer werden.
Aber wer die Dinge nur oberflächlich betrachtet, geht leicht in die Irre: Bei den zwei jungen Männern, die im Gottesdienst zur Gelübdeerneuerung eine tragende Rolle spielten, durfte man schon vermuten, dass sie später auch unter den Hauptrollen auftauchen würden. Einer von ihnen war blond, einer schwarz gelockt. Einer von ihnen hieß, wie dem Programm zu entnehmen war, Rochus Rückel, der andere Cengiz Görür. Nur entpuppte sich eben der Dunkle als der nach dem katholischen Pestheiligen Benannte und der Blonde mit den graugrünen Augen als der mit den türkischen Wurzeln.
Christian Stückl hat die Verwechslung, der nicht nur der Interviewer des Bayerischen Rundfunks aufsaß, jedenfalls diebische Freude bereitet.
INFO
Die 42. Oberammergauer Passionsspiele finden vom 16. Mai bis 4. Oktober 2020 statt. Internet: passionsspiele-oberammergau.de