Jan Wagner ist einer der erfolgreichsten zeitgenössischsten Dichter und wurde unter anderem mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Der Gedichtband "Steine & Erden" ist bereits 2023 erschienen und sein fünfzehnter Einzeltitel.
"Steine & Erden"
"Steine & Erden" besteht hauptsächlich aus Gedichten und einigen kurzen poetischen Texten. Es schärft den Blick für die kleinen Dinge. Wagner greift oft auf Gegenstände des täglichen Lebens zurück. Fast scheint es, als ginge er durch den Tag und hier und da würde ein Gegenstand sein Interesse wecken. Doch anstatt eine objektive und rationale Perspektive einzunehmen, werden die kleinen Dinge zu Stellvertretern von etwas Großem. Fast scheint es, als erzählten die Dinge ihre eigene poetische Geschichte.
So etwa das Gedicht: "krücke". Es lässt uns "durch sämtliche etagen der evolution stürz[en]" wobei ein "streichholz" welches im "dichtesten Dunkel" ist, nein war, uns an die Flüchtigkeit des Augenblicks erinnert.
Ein Wort eröffnet neue Welten
Im Gedicht "Kühe" beschreibt Wagner diese als "Standuhren, massig, mit pendelnden, zuckenden schwänzen, synchron und ganz in ihrer zeit". Die Tiere werden hier zu einem Symbol für voranschreitende Stunden.
Seinen einzigartigen Sprachstil, der Objekte in einen ganz neuen Kontext rückt, kann man gut an Flamingos, die "mit jedem hals ein Fragezeichen an alles fügen: ecuador? sardinien?" oder an einem Löffel, "ein silberschein, dein ständiger begleiter, dein mond" oder Köder aus Blei welche "hochzeitsschmuckgefunkel für deine kalten bräute, die fische" sehen.
Memento Mori
Ein immer wiederkehrendes Motiv ist die Vergänglichkeit. Diese taucht beispielsweise im "biber" auf, welcher "ein diener zweier welten, im wasserjenseits, auf dem waldesboden des hier-und-jetzt, und umgekehrt" ist, ein "unterhändler oder fährmann" auf "sein[em] styx". Hier merkt man auch den Einfluss der griechischen Mythologie.
Auch das Motiv der Vanitas aus dem Barock greift Wagner auf, etwa mittels eines Schmetterlings, der sich zwischen Tür und Rahmen setzt und das Bild der zum Tode verdammten Existenz des Schönen versinnbildlicht. Oder in Form einer Sanduhr, eine klassischen Vanitas-Motiv. "gedanken durchrieseln mich wie eine sanduhr. morgens werde ich umgedreht, und alles beginnt von neuem".
Ein Gefühl von Leere und Aussichtslosigkeit des Daseins kommt in dem Gedicht "geiersuite" zum Ausdruck. Die Vögel kreisen dort "als mahnende eklipse" am Himmel und man ist "nur einen infarkt entfernt davon, ein teil von ihrem system zu werden, vielleicht die einzige aussicht auf himmelfahrt".
Neologismen und Metaphern
Wagner spielt gerne mit Neologismen wie "zikadenuhren", Karotten als "lehmlaternen" oder "thermoskannenwetter". Bei diesen Begriffen haben wir sofort ein Bild im Kopf. Zudem machen Metaphern, etwa eine Quitte, die durch ihr Sonnensystem kreist, seine Lyrik so außergewöhnlich und spannend, manchmal fast mystisch.
Auch zeitkritische Gedichte wie "das reisen in zeiten der pest" über die Corona-Pandemie sind enthalten. "passierscheine, atteste, dokumente – papier, das aufgefaltet allein von a nach b gelangen könnte" beschreibt die Situation passend.
Das Buch regt zudem an, sich mit einem selbst auseinander zu setzen. Phrasen wie "du bist der spinner, der gold zu stroh macht" oder "wie wir noch leuchten, kurz bevor wir welken" zwingen uns über unsere Existenz nachzudenken. "Steine & Erden" ist ein sehr eindrucksvoller Lyrikband, der den Geist unserer Zeit einfängt, allerdings sicherlich keine leichte Kost für zwischendurch.
Jan Wagner. Steine & Erden. Hanser Verlag 2023. 112 Seiten. 22 Euro.
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