Diese Diktatur versucht gar nicht erst, ihre Grausamkeit als hehres Anliegen zu verbrämen. Sie gibt sich keine Mühe, menschenverachtende Gewalt als harte, aber notwendige Maßnahme erscheinen zu lassen, die dem Wahren und Guten dient. Das unterscheidet das Leben in George Orwells Roman "Neunzehnhundertvierundachtzig", der am 8. Juni 1949 erschien, von realen totalitären Systemen. Ob unter Hitlers oder Stalins Tyrannei oder in gegenwärtigen Diktaturen - immer wird der Bevölkerung vorgegaukelt, das Regime sei im Recht und führe das Volk in eine strahlende Zukunft.

Zukunftsvision mit düsterem Klang 

Orwells Protagonist Winston versteckt sich mit seiner Geliebten Julia vor der totalen Überwachung, ist aber von Anfang an im Visier der allmächtigen Partei. Er wird überführt, verhaftet, gefoltert, und sagt irgendwann zu seinem Peiniger: "Ihr herrscht über uns zu unserem eigenen Besten." Winston wird belehrt:

"Die Partei strebt die Macht lediglich in ihrem eigenen Interesse an. Uns ist nichts am Wohl anderer gelegen. (…) Macht ist kein Mittel, sie ist ein Zweck. (…) Der Zweck der Macht ist die Macht."

Totale Überwachung

In Orwells Roman ist die Überwachung total. Dem allgegenwärtigen Bildschirm (telescreen) entgeht nichts. Das Gerät ist zugleich Sender und Empfänger, selbst in Privatwohnungen kann es nicht abgeschaltet werden. Auch wenn andere Technik wie Rohrpost oder Wachswalzen-Tonaufnahmen heute altertümlich anmutet, funktioniert die Kontrollmaschinerie perfekt. Die Gedankenpolizei verfolgt abweichendes Denken, Kinder denunzieren ihre Eltern. Die Sprache wird so umgekrempelt, dass bestimmte Begriffe und Gedanken, die dem System widersprechen, nicht mehr möglich sind. Das Ergebnis: ein "Neusprech" (Newspeak).

Wenn das Buch zur Wirklichkeit wird 

Es mag scheinen, als hätte die Wirklichkeit von 2024 Orwells Welt eingeholt.

  • In China gibt es Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, ebenso Geschichtsverfälschung. Eine ganze Generation hat vom Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989 noch nie gehört.
  • In Russland biegt Putin die russische und ukrainische Geschichte zurecht, um seinen Angriffskrieg zu rechtfertigen. Wer diese "militärische Spezialoperation" Krieg nennt, wird bestraft.
  • In den USA sprach eine Beraterin Präsident Trumps 2017 von "alternativen Fakten", um offensichtlich falsche Aussagen zu seiner Amtseinführung zu rechtfertigen.

Orwell, 1903 im damaligen Britisch-Indien als Eric Arthur Blair geboren, nahm 1936 als Freiwilliger auf republikanischer Seite am Spanischen Bürgerkrieg teil. Dort begegnete ihm Terror, der seiner Vorstellung von einem "demokratischen Sozialismus" krass widersprach. Der "Große Bruder", Personifizierung der Macht in Orwells Roman, trägt Züge Stalins.

Satirische Grundzüge 

Häufig wird "Nineteen Eighty-Four" als Warnung vor politischem Totalitarismus verstanden. Ralph Pordzik, Professor für Englische Literatur- und Kulturwissenschaft in Würzburg, weist jedoch darauf hin, dass das Buch eher eine gelungene Satire als eine

"ernstzunehmende Warnung vor einer unbestimmten Zukunft" ist. Denn dessen Anhang sei "aus der Perspektive der Nachzukunft geschrieben" und spreche über die Welt von "Neunzehnhundertvierundachtzig" in der Vergangenheit.

Daraus ergebe sich, "dass Orwell selbst an eine Überwindung derart repressiver Systeme mithilfe der sprachlichen Vernunft gedacht haben muss", erläutert Pordzik. "Die Welt, in der Winston 1984 lebte, ist also selbst irgendwann untergegangen, vermutlich weil die Reprogrammierung der Bevölkerung durch eine künstliche Sprache, das Newspeak, gescheitert ist."

Gerade in der Sprache sieht der Anglist "ein starkes Instrument der satirischen Grundausrichtung des Romans, mit der Orwell auf eine Kritik der hohlen Phrase und der sperrenden Katalogsprache ideologischer Fraktionen in den von Polarisierung geprägten 1940er Jahren abzielt." Die Gefahr der Plattitüde lauere überall, wo der Bevölkerung schlichte Botschaften vermittelt werden sollen.

"Sprachliche Mehrdeutigkeiten und interpretative Freiräume müssen zum Erreichen dieses Ziels unbedingt unterbunden werden."

Autorität infrage stellen 

In den Staaten des Ostblocks war das Buch verboten, weil es den Sozialismus verunglimpfe. Heute ist es in Belarus verboten. "Politische Systeme, die 'Nineteen Eighty-Four' verbieten, sind sich der Potenziale dieses außergewöhnlichen Romans, autoritäre Herrschaftsformen herauszufordern und radikal infrage zu stellen, offensichtlich bewusst", erklärt Pordzik. 

"Sie fürchten sich davor, zur Karikatur oder Zielscheibe satirischer Darstellungen zu werden, vor allem, wenn diese mit subtilen ästhetischen Mitteln inszeniert werden." So werde die schon häufiger für tot erklärte Fähigkeit der Literatur unter Beweis gestellt, den Kampf um Gerechtigkeit und Demokratie mit ihren eigenen Mitteln zu führen.

Orwell starb 1950, ein halbes Jahr nach dem Erscheinen seines letzten Werks. "Nineteen Eighty-Four" wurde in 30 Sprachen übersetzt und erzielte Auflagen von vielen Millionen. Am Ende des Buchs, körperlich und seelisch gebrochen, ist Winston so weit. Die Gehirnwäsche, "Umschulung" genannt, ist erfolgreich. Der Roman schließt: "Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Großen Bruder."

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