Wäre da nicht diese Zärtlichkeit, mit der "Jedermann" auf sein Leben zurückblickt, dieser Roman wäre unerträglich. Beginnend mit seinem eigenen Begräbnis schaut der Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, post-mortem auf sein Leben zurück. Ein Leben als Krankenakte, geschrieben entlang körperlichen Verfalls.

Jedermann blickt zurück

Doch bevor "Jedermann" selber zurückblickt, schildert er uns erst einmal die Nachrufe seiner nächsten Verwandten. Seiner Tochter, die als einzige bis zum Ende zu ihm hält. Und seines Bruders, der im Gegensatz zu ihm, auch im hohen Alter fit, glücklich und erfolgreich ist. Seine beiden Söhne und seine drei Ex-Ehefrauen sagen nicht viel, sind ihm nicht besonders wohlgesonnen. Denn zu den Krankheiten gesellten sich in "Jedermanns" Leben viele Fehler.

Die letzte Ruhestätte "Jedermanns" ist ein jüdischer Friedhof an der Küste New Jerseys. Die Trauergemeinde ist überschaubar, die Todesursache eine fehlgeschlagene Herzoperation - die siebten im Lauf von wenigen Jahren, eine von unzähligen Krankheiten seit Kindeszeiten.

Seine eigene Rückschau beginnt der Erzähler mit seiner ersten Krankheit, einem Leistenbruch, der ihn als Neunjährigen ins Krankenhaus zwingt. Er überlebt, während sein Bettnachbar stirbt. Mit Mitte dreißig folgen ein Blinddarmdurchbruch samt Bauchfellentzündung - schon sein Vater wäre fast daran gestorben. Etwa zwanzig Jahre später werden dann fünf Bypass-Operationen notwendig. "Jedermann" empfindet seinen Körper fort an als "Lagerhaus für künstliche Gerätschaften."

Das Leben: Krankheiten, Fehler, Verluste

Hinzu kommen Atemnot, Hypertonus, Nierenarterienverschluss, Carotisarterienverengung links mit anschließender Stent-Operation und weitere Krankenhausaufenthalte. Zwischendurch schildert "Jedermann" die Erinnerungen an seinen Vater und die Jahre in dessen Juweliergeschäft, drei gescheiterte Ehen, eine unzufriedenstellende Karriere als Art Director in der Werbebranche und schließlich die einsame Flucht aus New York ins Ländliche, wo er Malkurse in der Seniorenresidenz gibt, deren einzig talentierte Besucherin – früh stirbt.

Das Leben "Jedermanns" entpuppt sich also als Abfolge von Krankheiten, Fehlern und Verlusten. Eine Aneinanderreihung nicht wiedergutzumachender Fehler. Dabei bedauert "Jedermann", lernt Familie, Zuneigung und das Gefühl der Geborgenheit schließlich zu schätzen - jetzt, wo sie nicht mehr da sind.

Das große Glück hat der Erzähler nie erreicht. Und doch zieht er uns mit seinen Schilderungen nicht runter, legen wir den Roman nicht vollkommen deprimiert wieder aus der Hand. Denn irgendwie ist "Jedermann" sympathisch, überraschend zart, liebevoll, fordert keine Absolution. Er ist nicht pathetisch und auch nicht komplett resigniert, sondern schicksalsergeben und demütig. 

Geboren um zu sterben

Im Zentrum von Philip Roths "Jedermann" steht die Erkenntnis, "dass man geboren wird, um zu leben und stattdessen stirbt." Wer damit umgehen kann, der wird dieses Buch lieben, in all seinen Facetten, in seiner Grundstimmung, in seinen Lehren. Alle anderen dürfen es gar nicht erst kaufen. Denn ihnen drohen Depressionen!

Doch Roth gehört zu den amerikanischen Erzählern, die aus der trivialen, manchmal langweiligen Wirklichkeit des Lebens, spannende Literatur machen konnten. Nicht vielen gelang das, dem 1933 in New Jersey geborenen und 2018 in New York gestorbenen Roth jedoch meisterlich. Er hat nie den Literaturnobelpreis erhalten, weder für dieses siebenundzwanzigste Buch noch für u.a. "Der menschliche Makel", der mit Anthony Hopkings und Nicole Kidman erfolgreich verfilmt wurde. Sein kurzer Roman "Jedermann" ist nach dem Theaterstück Hugo von Hofmannsthal benannt, das wiederum auf das spätmittelalterliche Mysterienspiel zurückgeht. In einem Interview sagte Roth, das hätte gepasst, diese Zwangsläufigkeit. 

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