Brad Beckman trägt heute lange Hosen. Das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit. "Wir haben hier momentan eine ›Kältewelle‹, sprich, statt der gewohnten 40 Grad plus hat es heute gerade einmal 29, das ist für unsere Verhältnisse kühl", gesteht der Pastor lachend und schließt die Bürotüre der "First Good Sheperd Lutheran Church" auf.
Seine Gemeinde hat 350 getaufte Mitglieder, rund 120 kommen am Wochenende zum Gottesdienst. Auf dem Kirchengelände, zu dem auch eine Grundschule und ein Gymnasium gehören, haben einige Kinder gerade Sportunterricht. Sie tragen unterschiedliche Kostüme. Ein Mädchen turnt als Prinzessin, ein anderes in Army-Uniform, ein Junge ist als Dinosaurier verkleidet. Es ist Schulanfang nach dem Sommer, besser gesagt Homecoming Week. Und da dürfen sich alle eine Woche lang anziehen, wie sie möchten.
Nevada ist bis heute der einzige Staat in den USA, in dem Prostitution gesetzlich erlaubt ist
Pastor B., wie ihn Freunde und Mitglieder nennen, leitet seit Anfang 2018 die kleine Gemeinde, die im Herzen von Las Vegas, nur wenige Hundert Meter entfernt vom berühmten Strip mit den Casinos liegt. Einen Katzensprung entfernt von der sündigen Meile mit ihren einarmigen Banditen und Animier-Bars. Nevada ist bis heute der einzige Staat in den USA, in dem Prostitution gesetzlich erlaubt ist.
Gleich gegenüber seiner Kirche befindet sich das LGBTQ-Center, mit dem der Pfarrer oft Kontakt hat. Sonntags vor dem Gottesdienst sammelt er hinter der Schule den Müll ein, darunter auch Nadeln von Drogenabhängigen. Sauer ist er deshalb nicht auf seine Nachbarschaft.
"Wir haben eine gute Beziehung zu allen. Uns geht es darum, Brücken zu bauen, in einer Gemeinschaft zu leben und sich gegenseitig zu unterstützen."
Die Hilfe und Kooperation untereinander sei bei den lokalen Organisationen sehr groß, versichert Pastor B. "Wir als Kirche haben keine staatlichen Steuergelder für Projekte oder Geldfonds wie andere Vereine, aber wir arbeiten ehrenamtlich beim Kampf gegen Sexhandel oder bei der Essensausgabe an Obdachlose mit."
Die Gründe, warum Menschen heimatlos werden, berichtet er, sind vielschichtig. "Oft spielen Drogen, Alkohol, Spielsucht und psychische Probleme eine Rolle. Hier in der Nachbarschaft lebt zum Beispiel eine ehemalige Lehrerin auf der Straße, die mentale Probleme hat. Ihre Familie hat Geld für sie auf einem Konto bei der Bank hinterlegt, aber sie möchte keine Verantwortung haben und Rechnungen oder Miete bezahlen und lebt lieber unter freiem Himmel. Geld ist nicht immer die Antwort auf alles", so der Geistliche.
In Las Vegas kommen auf jeden der rund 2,2 Millionen Einwohner statistisch gesehen mehr Kirchen pro Kopf als in jeder anderen Stadt in den USA.
Im Gegensatz zu den berühmten Wedding-Chapels, in denen Touristen aus aller Welt im 20-Minuten-Takt wie am Fließband von einem Elvis-Double unter die Haube gebracht werden, zählt die Kirche von Pastor B. zu den traditionellen, konservativen Gemeinden, in denen die alte Liturgie gepredigt wird. Es gibt einen Altar mit Kerzen. Zu den Gottesdiensten trägt der Pfarrer einen Talar. Mit dem für Vegas typischen Heirats-Tourismus habe er nichts am Hut, betont er. Zu ihm kommen die Menschen, die in der Stadt leben. Familien, Obdachlose, Drogenabhängige, sozial Schwache.
Landesweit hat die "Lutheran Church Missouri Synod" (LCMS) rund zwei Millionen Mitglieder in den USA und etwa 10 000 Kirchen, in denen rund 6000 Pastoren arbeiten. Alleine acht von ihnen befinden sich in und um Las Vegas. Die "First Good Sheperd" war die erste Mutterkirche am Ort. Gebaut wurde sie 1940 und seit einigen Jahren ziert ein großes Wandgemälde die Kirchenwand. Darauf abgebildet sind Kinder verschiedener Kulturen und Jesus, der ihnen die Hand entgegenstreckt. Für die Autofahrer und Passanten, die daran vorbeikommen, nicht zu übersehen.
"Es ist egal, wo du herkommst, wir sind eine Gemeinde"
Die Botschaft des Gemäldes ist klar. "Wir sind eine Gemeinde für alle Nationen. Es ist egal, wo du herkommst, wie du aussiehst, wie du dich kleidest, wie du riechst, ob du arm bist oder reich", erklärt Pastor B. Die 165 Kinder der Schule stehen repräsentativ für diesen Querschnitt: 50 Prozent von ihnen sind Hispanics, 25 Prozent afro-amerikanisch und 25 Prozent weiß. Jeden Mittwoch hält er einen Gottesdienst für die Schüler.
Sein eigener Lebensweg, verrät der Pastor, war kein Zufall. Geboren in San Antonio, Texas, wuchs Brad Beckman in einem streng religiösen Elternhaus auf. "Insofern kein Wunder, dass ich Pastor geworden bin." Nach seinen ersten Pfarrstellen im texanischen Arlington und später in Lincoln, Nebraska, und Saint Louis, Missouri, zog es den heute 63-Jährigen nach Las Vegas.
"Ich möchte nicht in einer Blase leben und mich langweilen, sondern lieber im Brennpunkt sein"
"Ich habe für mich festgestellt, dass ich an einem Ort sein möchte, der mich herausfordert, der Ecken und Kanten hat. Ich war vorher in ländlichen Gemeinden, in denen alles schön und ruhig war. Aber das ist nicht die reale Welt. Ich möchte nicht in einer Blase leben und mich langweilen, sondern lieber im Brennpunkt sein. Ich bin ein Adrenalin-Junkie. Diesem Ruf bin ich gefolgt und hier gelandet. In Vegas fühle ich mich wohl und erfüllt. Hier ist es aufregend."
Das sahen seine Eltern wohl ähnlich. "Meine Mutter kam mit ihrer Schwester und mein Vater mit seinem Bruder über 20 Jahre lang nach Vegas. Sie haben sich immer einen Spaß daraus gemacht, dabei so wenig Geld wie möglich auszugeben und nahmen sich ein billiges Hotel." Ab und zu, gibt der Pastor zu, versucht er sein Glück auch mal am Roulettetisch. Wer nicht als Tourist zum Spielen oder Heiraten nach Las Vegas kommt, sondern hier lebt, erlebt die Partymetropole meist weniger glitzernd: So sind die Apartmentpreise in den letzten Jahren fast unerschwinglich geworden, seit immer mehr Kalifornier nach Nevada ziehen und so die Mieten nach oben treiben. "Die einkommensschwache Bevölkerung wird durch Wohlhabende und Firmen verdrängt, die alte Gebäude aufkaufen und teuer sanieren", bedauert Pastor B. "Deshalb mussten schon viele Alteingesessene von hier wegziehen."
Was überrascht: Brad Beckman ist nicht nur Pastor, sondern nebenbei Uber-Fahrer. "Ich habe bereits über 15 000 Fahrten gemacht. Die ganze Welt sitzt in meinem Auto. Alle Sprachen, alle Religionen." Was damals vor zehn Jahren als Nebenjob in Nebraska begann, macht er jetzt nach Feierabend aus Spaß nebenbei. "Einfach, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen und um gute Geschichten für meine Predigten zu sammeln. Sobald ich erwähne, dass ich Pastor bin, fragen mich die Gäste oft spirituelle und theologische Fragen". Sein Vater findet das übrigens klasse: "Er meinte zu mir: ›Andere gehen Golf spielen, du fährst Uber.‹"
Mit den Kollegen der Hochzeit-Kapellen, bei denen der Kommerz und das Entertainment im Vordergrund stehen, steht Pastor B. nicht in Konkurrenz. Schließlich sind fast alle von ihnen Standesbeamte, die in einem halbtägigen Kurs eine Hochzeits-Lizenz zum Trauen erwerben, um damit Geld zu machen. Brad Beckman hingegen traut nur Kirchenmitglieder seiner Gemeinde und keine Touristen. Wobei: einmal hatte er bei seinen Uber-Fahrten ein Pärchen auf dem Rücksitz, die heiraten wollten und nicht wussten wo. "›Kannst du was empfehlen?‹, fragten sie mich, und als ich mich als Pastor outete und sie meinten, sie hätten gerne eine kirchliche Trauung mit einem echten Pfarrer, da habe ich sie in der Lobby getraut, der Concierge des Hotels war spontan Trauzeuge", erinnert er sich schmunzelnd.
"Was soll man sonst auch in der Wüste machen?"
Zu den anstehenden Präsidentschaftswahlen in dem tief gespaltenen Land hat der Pastor eine klare Haltung. Vor allem die Rolle der Medien sieht er kritisch. "Ich denke, es gibt mehr Harmonie und Einheit, als wir denken, aber die Medien haben die Macht. Sie forcieren vieles und versuchen, uns gegenseitig aufzuwiegeln. Sie könnten ja auch Menschen zeigen, die gut zusammenarbeiten und sich verstehen. Aber daran liegt ihnen nichts."
Vielleicht, gibt Pastor B. am Schluss zu, fühle er sich in Vegas auch deshalb so gut aufgehoben, weil man hier weniger Vorurteile gegenüber Sündern hat und sie mit keinem Stigma belegt. Für den zweimal geschiedenen Geistlichen und Vater von drei Kindern offenbar eine Achillesverse. "Natürlich ist es mir peinlich und ich bin nicht stolz darauf, aber andererseits haben wir doch alle unser Päckchen zu tragen und sind dadurch real, authentisch. Die Leute hier urteilen weniger und verzeihen Sündern eher."
Zurück zur Hitze. Die Frage, warum eine Stadt mit Casinos und Shoppingcentern an einem unerträglich heißen Ort gebaut wurde, lässt sich leicht beantworten: um die Besucher drinnen zu halten. Was soll man sonst auch in der Wüste machen? Aber wie halten die Bewohner diese Hitze dauerhaft aus? "Da stelle ich gerne die Gegenfrage: Wie kann man in Minnesota oder in Deutschland in der Kälte leben? Ich sage es Ihnen: Man gewöhnt sich daran. Ich persönlich schwitze lieber, als dass ich friere."
Kommentare
Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.
Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.
Anmelden