Herr Opaschowski, die Deutschen blicken mit Sorge in die Zukunft. Ist diese schon sprichwörtliche »deutsche Angst« begründet?

Opaschowski: Ihre Frage zielt auf die Vernunft. Angst und Sorge sind aber Gefühle. Es handelt sich eher um gefühlte als um reale Angst. Wir haben in den vergangenen Jahren eine »Bestzeit« erlebt. Unserem Land geht es gut, der Wohlstand ist groß. Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Menschen waren also optimistisch. 2015 gab es jedoch einen Stimmungsumschwung. Kriege, Krisen und Katastrophen sind plötzlich ganz nahe: Wir sind geschockt von den Terroranschlägen in Paris, Deutschland beteiligt sich am Syrieneinsatz und ist damit beschäftigt, die Flüchtlingskrise zu bewältigen.
 

Deutschland hat 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Ist das Land bereit für eine weitere Million?

Opaschowski: Ökonomisch kann Deutschland das verkraften. Finanzminister Wolfgang Schäuble nimmt derzeit mehr Steuermilliarden ein als erwartet und muss zudem auf die Staatsschulden kaum noch Zinsen zahlen. Man hat fast den Eindruck: Die Flüchtlingskrise bezahlt er aus der Portokasse. Für die Mehrheit der Deutschen wäre es allerdings unvorstellbar, jedes Jahr so viele Flüchtlinge aufzunehmen wie 2015. Die Angst vor Fremden ist eine Urangst, sie ist im Menschen angelegt. Diese Angst haben auch viele Deutsche. Vermutlich ist damit die Sorge verbunden, einen Teil des verdienten Wohlstands zu verlieren. Psychologisch ist Deutschland für eine weitere Million Flüchtlinge ganz sicher nicht bereit. Man merkt jetzt schon, wie das Land gespalten ist. Es gibt zwei Lager, die sich kaum noch etwas zu sagen haben. Die einen appellieren an die Solidarität, die anderen wehren sich vehement dagegen.
 

Welchem Lager gehören Sie an?

Opaschowski: Ich finde, dass man Kriegsflüchtlingen helfen muss. Ich habe das Leid der Flüchtlinge als Kind selbst erfahren. Meine Familie stammt aus Oberschlesien. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten wir westwärts fliehen.
 

Ihre Schlussfolgerung lautet also: »Seid willkommen, Millionen«?

Opaschowski: Deutschland hilft, so gut es geht. Die Politik muss neben den Flüchtlingen allerdings auch den Willen der 82 Millionen Bundesbürger im Blick haben. Sie muss den Bürgern für Schutz und Sicherheit bürgen. Im Moment haben viele Bürger jedoch den Eindruck, sie verlieren - bildlich gesprochen - ihre Burg. Meine Befragungen zeigen sehr deutlich: Sicherheit ist die neue Freiheit der Deutschen. Eigentlich müsste man die Nationalhymne umdichten in »Einigkeit und Recht und Sicherheit«. Dies entspricht dem derzeitigen Lebensgefühl.

 

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Tragen die Deutschen eine Wagenburg-Mentalität in ihrem Herzen, die sich von allem Leid und Elend abschottet?

Opaschowski: Nein, die bisherige Aufnahmepraxis zeigt ja gerade das Gegenteil. Allerdings könnte sich das bei gleichbleibendem Flüchtlingszustrom ändern. Eine Wagenburg ist immer auch ein Ausdruck einer Notlage. Wenn die Bedrohungen von außen anhalten, rückt man zusammen und fragt sich: Auf wen kann ich mich noch verlassen? Wem vertraue ich? Die vergangenen Monate haben gezeigt: auf Volkswagen, die Deutsche Bank und den Deutschen Fußballbund leider nicht. Das Vertrauen in die Wirtschaft ist ebenso erschüttert wie das in den Sport. Das Vertrauen in die Politik leidet ohnehin schon seit Jahren. Verlass ist eigentlich nur noch auf den engsten Kreis: die Familie.
 

Halt suchen die Deutschen auch im Konsum: Beim Kauf von Flachbildschirmen, Smartphones und Computern gehören wir zur Weltspitze ...

Opaschowski: Wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft mit einem Wirtschaftswunder, das im Grunde seit den 1950er-Jahren andauert. Ein Großteil der Bevölkerung - insbesondere die junge Generation - definiert sich über den Konsum. Weltweit schafft die Wirtschaft Erlebniswelten als Ersatzparadiese für moderne Pilgerreisende. Es fehlt eigentlich nur noch der Weltraumtourismus, bei dem man schon mal an die Himmelstür klopfen kann, nach dem Motto: »Mach das Tor auf, ich habe es mir verdient.« Natürlich ist das eine Selbstüberhebung.
 

Der Schriftsteller Heinrich von Kleist (1777-1811) schrieb: »Das Paradies ist verriegelt. Wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht hinten irgendwie wieder offen ist.«

Opaschowski: Natürlich sind wir alle auf der Suche nach dem Paradies - der eine sucht es im Einkaufsparadies, der andere wähnt es im Urlaubsparadies. Auf dieser Sehnsucht nach einer heilen Welt sind ganze Erlebnisindustrien aufgebaut. Da der Himmel nicht verfügbar ist, sucht man ihn notgedrungen eben auf Erden - wenigstens als Glücksmomente. Allerdings: Das Schlaraffenland ist abgebrannt. Die ökonomischen, ökologischen und moralischen Grenzen der Erlebnisgesellschaft werden immer deutlicher. Den Menschen wird auch immer deutlicher, dass mehr Einkommen und ein höheres Bruttosozialprodukt wenig darüber aussagt, ob wir mit unserem Leben glücklich sind. Es erfasst vieles, lässt aber das Entscheidende außen vor: die Frage nach der Lebensqualität.
 

Was macht das Leben lebenswert?

Opaschowski: Die vier Fs und drei Gs: Familie, Freunde, Freiheit und Frieden sowie Geld, Gesundheit und Geborgenheit. Natürlich braucht man zur Existenzsicherung ein finanzielles Polster, aber es ist eben nur einer von mehreren Punkten. Erfreulich finde ich, dass sich derzeit in Deutschland eine sinnvolle Lebensphilosophie ausbreitet: »Gut leben statt viel haben.« Natürlich wollen junge Leute ein Mobiltelefon haben. Dafür verzichten sie aber beispielsweise auf ein eigenes Auto. Der Gedanke, etwas zu teilen, anstatt es selbst zu besitzen, breitet sich aus.
 

Mindert diese neue Weltsicht die Leistungsbereitschaft junger Leute, nach dem Motto: Lieber ein Sabbatjahr machen anstatt die nächste Beförderung abgreifen?

Opaschowski: Für mich gehört die junge Generation zu den Pionieren des Wertewandels. Sie rückt die Wertmaßstäbe wieder zurecht. Die Revolutionäre der 1968er-Bewegung vertraten die »Unlust an der Leistung«. Diese Einstellung findet man heute glücklicherweise kaum noch. Es gibt allerdings einen wesentlichen Unterschied zwischen der Wirtschaftswundergeneration und den jungen Menschen heute: Die Jungen wollen heute in der Balance leben. Sie sind nicht mehr bereit, Familie, Freizeit und Gesundheit der Arbeit zu opfern. Das Erreichen der nächsten Karrierestufe hat nicht mehr oberste Priorität. Statt nach dem Motto »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen« zu leben, streben sie heute ein Gleichgewicht von Arbeit und Vergnügen an.

 

Zukunftsforscher Horst Opaschowski
Zukunftswissenschaftler Horst Opaschowski

Die Geburtenrate ist jetzt zum dritten Mal in Folge gestiegen. War die Sorge um den Geburtenmangel unnötig?

Opaschowski: Leider nein. Die Geburtenrate liegt jetzt bei 1,47. Zur Bestandswahrung des Volkes wäre eine Rate von 2,1 Kindern pro Frau nötig. Das Jahr 2030 wird ein Wendejahr sein: Dann treten Jahr für Jahr die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit in den Ruhestand. Gleichzeitig wird der Arbeitsmarkt nur noch durch immer kleiner werdende junge Jahrgänge verstärkt. Die Folge: Zwischen 2030 und 2060 geht es mit Deutschland demografisch bergab. Selbst eine beständig hohe Zahl von Zuwanderern kann den Bevölkerungsschwund nicht mehr aufhalten.
 

Das klingt ziemlich hoffnungslos ...

Opaschowski: Meine Hoffnung ist ein zweiter demografischer Wandel: Derzeit beobachte ich eine Hinwendung zu Familie und Kindern. Denkbar wäre, dass sich die Geburtenrate weiter erhöht und sich ab der Mitte dieses Jahrhunderts Geburten und Sterbefälle wieder ausgleichen.
 

Dann bliebe dennoch eine Periode von etwa 30 Jahren, in der die Rentenbelastung enorm sein wird. Schaffen die Deutschen auch das noch?

Opaschowski: Die Aussage »Wir schaffen das« ist für manche nahezu zu einem Unwort geworden. Dabei jubelten alle, als US-Präsident Barack Obama bei seiner Wahl »Yes we can« (Ja, wir können) ausrief. Nichts anderes sagt nun auch Bundeskanzlerin Merkel. Der Satz ist in der menschlichen Natur angelegt. Zu unseren Kindern sagen wir ja auch »Du schaffst das schon«.

 

Statt von einer Wiederkehr der Religion müsste man eher von einer Renaissance der Familie sprechen. Im Grunde ist die Familie die neue Glaubensgemeinschaft der Deutschen.

Horst Opaschowski

War die Flüchtlingskrise vorhersehbar?

Opaschowski: Es gibt in jedem Jahrzehnt akute Nöte, mit denen keiner rechnet. Vernünftig wäre es deshalb, für unerwartete Ereignisse Rückstellungen zu bilden.
 

Sie haben sich in Ihren Forschungen auch mit der Zukunft der Kirchen beschäftigt. Sie rechnen damit, dass im Jahr 2030 die Fußball Champions League und Formel 1 für die Menschen wichtiger sind als Kirche und Glauben.

Opaschowski: In einer Umfrage haben wir gefragt: »Was ist Ihnen heilig?« An erster Stelle stand die Familie, gefolgt von Gesundheit, Kindern, dem Partner, Freunden und den Eltern. Einen mittleren Platz nahmen die Achtung der Menschenwürde, die Gerechtigkeit, Treue, Ehrfurcht vor der Natur und Toleranz ein. Nur 18 Prozent sahen den Glauben an Gott als »heilig« an, und ganz am Schluss stand mit nur zehn Prozent die Kirche. Statt von einer Wiederkehr der Religion müsste man daher eher von einer Renaissance der Familie sprechen. Im Grunde ist die Familie die neue Glaubensgemeinschaft der Deutschen.
 

Allein 2014 sind mehr als 400.000 Deutsche aus den Volkskirchen ausgetreten. Müssen sich die Kirchen mit diesem Exodus abfinden, oder ist eine Trendumkehr möglich?

Opaschowski: Die Kirchen befinden sich im Sog einer Massenflucht aus den Großinstitutionen. Die Menschen wenden sich ja auch von Parteien, Gewerkschaften und Verbänden ab. Eine Ausnahme ist der Deutsche Fußball-Bund. Er hat mit 6,9 Millionen Mitgliedern so viele Anhänger wie nie zuvor. Es ist heute ja auch kaum noch möglich, im Fernsehen einen Tag ohne Fußball zu erleben. Was die Kirchen tun können? Entscheidend sind Angebote für die Jugend. Ein Beispiel: Eine meiner Enkelinnen hatte vor einem Jahr Konfirmation. Inzwischen arbeitet sie als »Teamerin« mit, das heißt, sie ist Mitarbeiterin für den nächsten Konfirmandenjahrgang. Junge Leute bleiben dann dabei, wenn sie mitmachen und neue Freunde gewinnen können. Hinzu kommt die strategische Positionierung: Die Kirche müsste in den Medien präsenter sein, vor allem im Fernsehen. Zum Beispiel wird das Engagement von Zehntausenden Christen in der Flüchtlingskrise in den Medien nicht so deutlich, wie es eigentlich der Fall sein müsste.

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Sie erforschen seit vier Jahrzehnten die Zukunft. Können Sie Ihre Erkenntnisse in einem Satz zusammenfassen?

Opaschowski: Meine Grundfrage ist, was ein gutes Leben auszeichnet. »Mein Haus, mein Auto, mein Boot« halte ich als Lebensmotto für ungeeignet. Besser ist: »Eine Arbeit, eine Familie, ein Ehrenamt«. Golf spielen mag schön sein, aber ein Ehrenamt auszuüben ist befriedigender. Damit tue ich nicht nur dem anderen etwas Gutes, sondern auch mir selbst.
 

Welches Ehrenamt üben Sie aus?

Opaschowski: Ich bin Pate eines Mehrgenerationenhauses, wirke mit bei der Initiative »Hamburg engagiert sich« und habe eine Helferbörse für Jugendliche gegründet.


Sie beobachten einen »konservativen Wertewandel«. Woran machen Sie das fest?

Opaschowski: Die Ehrlichkeit hat einen rasanten Aufstieg erlebt. Sie steht jetzt an Nummer eins in der Werteskala der Deutschen. An zweiter Stelle stehen Anstand und richtiges Benehmen, Rücksichtnahme, Fleiß und Disziplin. Emanzipatorische Werte wie Selbstständigkeit, Selbstvertrauen oder Durchsetzungsvermögen bleiben weit dahinter zurück. Mit dieser Reihenfolge hatte ich nicht gerechnet!
 

2002 schrieben Sie: »Der größte Gefährdungsfaktor für den sozialen Frieden in Deutschland wird der Konflikt zwischen Einheimischen und Ausländern und zwischen Christen und Muslimen sein. Unterschiedliche Kulturen und Religionen stoßen hier aufeinander und drohen Deutschland zum Konfliktfeld zu machen.« Halten Sie daran fest?

Opaschowski: Diese Sorge überragt heute alle anderen.
 

Im Mittelbereich zwischen Not und Überfluss geht es Menschen am besten.

Horst Opaschowski

In Politik und Kirche hält man die Sorge für unbegründet. Der EKD-Ratsvorsitzende, Heinrich Bedford-Strohm, sagt etwa, die Angst vor der Zuwanderung von Muslimen sei »kleingläubig«.

Opaschowski: Ich habe nicht Politiker oder Kirchenleiter befragt, sondern das Volk. Und das sieht die Dinge nun mal anders. Die Auseinandersetzung in der Flüchtlingskrise hat vor allem mit der Angst vor dem Islam zu tun.
 

Wird diese Angst von der »Alternative für Deutschland« (AfD) noch geschürt?

Opaschowski: Die AfD war ursprünglich eine konservative Bewegung, die den Mut hatte, von der »politischen Korrektheit« verdrängte und verschwiegene Wahrheiten auszusprechen, etwa im Blick auf die Euro-Rettungspakete. Inzwischen hat sich die Partei jedoch leider radikalisiert. Besonders im Blick auf die Flüchtlingskrise macht sie auch vor aggressiven Äußerungen und Hasstiraden nicht halt.
 

Wird die »Alternative« 2017 in den Bundestag einziehen oder sich vorher in Flügelkämpfen selbst zerlegt haben?

Opaschowski: Das zu beantworten wäre Kaffeesatzleserei. Dafür ist in der Politik derzeit zu viel in Bewegung. Schon ein weiterer Terroranschlag könnte genügen, um bisher ungeahnte Veränderungen nach sich zu ziehen. Klar ist: Im Moment ist die AfD sehr stark, und es besteht die Gefahr, dass sie sich als dritte politische Kraft etabliert.
 

Sie haben »Zehn Gebote für das 21. Jahrhundert« formuliert. Tun es die alten nicht mehr?

Opaschowski: Doch! Und sie sind dem Geiste nach ja auch in meinen zehn Geboten enthalten, etwa wenn ich schreibe: »Mach die Familie zur Konstante deines Lebens und ermutige Kinder und Jugendliche zu dauerhaften Bindungen.« Also Beständigkeit statt Beliebigkeit! Auch meine Forderung, maßvoll zu genießen, ist biblisch begründet. Sie deckt sich auch mit der Lebenserfahrung meiner Tante, die 102 Jahre alt wurde. Sie sagte immer: »Was ich brauch', das habe ich. Was ich nicht habe, das brauch' ich nicht.« Das stimmt mit den Ergebnissen der repräsentativen Wohlstandsbefragungen überein: Im Mittelbereich zwischen Not und Überfluss geht es Menschen am besten - und das predige ich.