Wie blicken Sie heute auf Ihren Vater Harald Poelchau und seine Rolle als Gefängnispfarrer während des NS-Regimes?

Siemsen: Als Kind wurde nicht viel über die Vergangenheit gesprochen. Ich habe natürlich seine Bücher gelesen und es hat mich berührt. Heute freue ich mich, dass er so viel Gutes tun konnte und die Kraft dazu hatte. Er war Einzelkind und fand schon in seiner Jugend immer Anschluss an andere Menschen. Er hatte viele Freundeskreise. Dadurch hatte er viele Kontakte, die er nutzen konnte, um "U-Boote" unterzubringen oder Hilfe zu erfragen. Er hatte die Fähigkeit, mit neuen Menschen Kontakt aufzunehmen und er kümmerte sich um sie.

Als Gefängnisseelsorger hat Ihr Vater traumatische Erfahrungen gemacht, die er verarbeiten musste. Wie haben Sie das erlebt?

Siemsen: Das habe ich nicht mitbekommen, ich war zu jung. Seine Frau Dorothee hat das sicher mitbekommen. Ich weiß nicht, ob er Alpträume hatte. Er hatte Magengeschwüre und war gesundheitlich schon mitgenommen. Aber davon habe ich nicht viel gemerkt.

Er ging auf Vortragsreisen, besuchte Nachkommen und hielt oft Reden bei Gedenkfeiern. Aber ich war einfach viel zu klein, um das alles mitzukriegen. Erst im Nachhinein habe ich dann gelesen, dass er bei Gedenkfeiern Reden gehalten hat.

Was beeindruckt Sie am meisten an ihrem Vater?

Die Zivilcourage, die das Ehepaar Harald und Dorothee Poelchau gezeigt haben, ebenso wie meine Mutter und viele andere mehr, die mithalfen mit Lebensmittelkarten, gefälschten Dokumenten und Unterkunft für untergetauchte jüdische Mitbürger.  

Sie haben in der NS-Zeit nicht einfach bloß zugeschaut, sondern sie haben getan, wovon sie dachten, dass es richtig ist.

Man muss nicht aufstehen und 'Nieder mit Hitler!' schreien, sondern kann auch etwas tun, ruhig und bescheiden. Die Menschen in Not sehen und ihnen helfen. Dann ist wenigstens an einer Ecke ein bisschen Not gelindert. Und: Die Liebe zum Menschen und die Menschlichkeit, die muss immer Vorrang haben.

Wie war er denn als Vater?

Siemsen: Er hatte immer ein offenes Ohr. Man konnte mit allen Fragen und Problemen zu ihm kommen und drüber reden oder eben ganz fröhlich miteinander spazieren gehen. Wir waren eine ganz normale Familie. Beim Mittagessen wurde das Tischgebet gesprochen. Die Mittagsruhe musste definitiv eingehalten werden, da durfte er nicht gestört werden. Ansonsten hat man sich viel über aktuelle Politik ausgetauscht. In der Nachkriegszeit, die ich bewusst in Erinnerung habe, war er Sozialpfarrer in einem Arbeiterbezirk am Karolingerplatz und sehr aktiv eingebunden. Da ging es mehr um Gespräche über individuelle Probleme und Gruppenaktivitäten, und über Freizeitangebote. Er war immer froh, wenn etwas geklappt hat.

Poelchau und Siemsen

Er versteckte Juden, arbeitete im Widerstand und schmuggelte Briefe der Inhaftierten heraus: Harald Poelchau war während der NS-Diktatur Gefängnispfarrer in Berlin. Er begleitete rund 1.200 Menschen in den letzten Stunden vor ihrer Ermordung von den NS-Schergen. Poelchau zählte zum Widerstand des "Kreisauer Kreises" um Helmuth James Graf von Moltke und York von Wartenburg. Nach Kriegsende wurde Poelchau Generalsekretär für das Evangelische Hilfswerk und später arbeitete er als Sozialpfarrer in Berlin. . Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem ehrte ihn und seine Frau Dorothee 1971 als "Gerechte unter den Völkern". Am 29. April 1972 starb Harald Poelchau.

 

Andrea Siemsen ist die Tochter von Pfarrer Harald Poelchau und Gertie Siemsen. Sie wurde 1945 geboren, studierte Orientalistik und lebte viele Jahre in London. Zuletzt arbeitete sie im Haus der Kulturen der Welt in Berlin.

 

Wie war das Verhältnis von Harald Poelchau zu seiner Frau Dorothee und ihrer Mutter?

Dorothee und Harald hatten eine sehr gute Ehe. Dorothee liebte ihren Mann sehr und er sie. Das war eine gute Ehe. Mein Vater und meine Mutter kannten sich schon seit Studienzeiten, in den Kriegswirren kamen sie sich dann näher, aber das war eine Ausnahme.

Wo haben Sie unmittelbar nach dem Krieg gelebt?

 

Siemsen: 1946 ist die Familie Poelchau an den Heidehof gezogen. Ich war auch noch etwa ein Jahr dort. Dann ist meine Mutter mit mir in eine andere Wohnung im Bezirk Zehlendorf gezogen. Aber ich bin noch regelmäßig zum Heidehof gegangen, besonders in der Grundschulzeit.

Ebenso wie der Garten im Gefängnis war meinem Vater der Garten im Heidehof immer eine große Freude. Dort hat er sich erholt. Oder wir waren spazieren am Schlachtensee. Aber er war auch viel beschäftigt. Er besuchte die Nachkommen des Widerstands, war auf Konferenzen, hielt Vorträge.

 

Wann haben Sie sich mit seiner Biografie und dem NS-Widerstand beschäftigt?

 

Siemsen: Ich habe früh die verschiedensten Bücher gelesen. Die Bildbände von Annedore Leber habe ich mir genau angeschaut und durchgeblättert und natürlich zuerst die Namen angeguckt, die ich kannte. Wir hatten ein offenes Haus, dort trafen sich immer Freunde und Bekannte, die Familie Reichwein und die Moltkes, aber auch von Trott. Dann gab es eine gemeinsame Kaffeetafel und man unterhielt sich über alle möglichen Themen.

Zeitzeugengespräch mit Andrea Siemsen

Harald Poelchau war Gefängnispfarrer in den Strafanstalten Berlin Tegel, Plötzensee und Moabit. und gehörte seit 1941 zur Widerstandsgruppe "Kreisauer Kreis". Als Seelsorger betreute er zahlreiche inhaftierte Gegner des Naziregimes, darunter auch einige der am Umsturzversuch des 20. Juli 1944 Beteiligte. Am 30. November 1971 wurden Harald und seine Frau Dorothee Poelchau von der Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" gewürdigt. Seine Tochter Andrea Siemsen berichtet aus seinem Leben.

Dienstag, 08.04.2025  19.00 Uhr im Haus Eckstein in Nürnberg: Link zur Veranstaltung

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