Götz Aly wedelt mit seinem knallroten Werk hin und her. "Natürlich hat so ein Buch Angriffsflächen", erzählt der diesjährige Träger des Geschwister-Scholl-Preises vor Journalisten. Doch das sei ja nur logisch, wenn man über ein so riesiges Thema schreibe. Und breit angelegt ist das Werk, für das der in Heidelberg geborene Historiker am Montagabend in München den mit 10.000 Euro dotierten Preis der Landeshauptstadt und des bayerischen Landesverbandes des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erhielt, in der Tat: Es beschäftigt sich mit nichts Geringerem als mit "Europa gegen die Juden. 1880-1945" (Fischer).

Eine von Alys Botschaften: Wenn wir verstehen möchten, wie es zum Holocaust kommen konnte, müssen wir uns mehr mit den Mitläufern der NS-Zeit beschäftigen. Näher als Anne Frank oder die Weiße Rose stünden den Menschen heute diejenigen, die die Morde "zustimmend oder angepasst mittelstark beklatschten". Doch anstatt sich mit diesen "zuverlässig passiven Stützen der Gewaltherrschaft" auseinanderzusetzen, "läuft unsere heutige Erinnerungskultur darauf hinaus, sich mit den Opfern zu identifizieren", kritisierte Aly laut Redemanuskript. Parallel dazu würden die Täter zu "schier außerirdischen Exekutoren stilisiert".

Ein ganz banaler Grund für den Holocaust: Neid

In seinem Buch beschäftigt sich der Historiker nicht nur mit diesen Menschen, er stelle bei der Forschung danach, wie der Mord an sechs Millionen Juden habe geschehen können, auch immer wieder unbequeme Fragen, lobte Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) bei der Verleihung in der Ludwig-Maximilians-Universität im Rahmen des Literaturfestes München. Anstatt sie mit einer "Metaphysik des Bösen" abzutun, verweise er als Motive auf alltägliche Abgründe: Neid, Kleinmut und Angst vor Verantwortung.

Der Neid auf die als besonders tüchtig wahrgenommenen Juden sei nach Aly zwar nicht die einzige Ursache dafür, dass Vorurteile im Völkermord kulminierten, heißt es in der Jurybegründung. Doch viel zu selten sei in der Forschung überhaupt vom Neid als Ursache die Rede. In seinem jüngsten Buch belege er eindrücklich, dass Antisemitismus nicht die Sache einer Minderheit von irrationalem Hass getriebener Fanatiker war, sondern dass es "für die Verdrängung der Juden aus dem bürgerlichen Leben rationale Gründe gab": erklärbar aus den materiellen Interessen derjenigen, die von der Beseitigung der Konkurrenz profitierten.

"Die Feder schießt schärfer als ein Pfeil"

Als "Penmentsch", jiddisch für "Federmenschen", bezeichnete der bayerische Börsenvereins-Vorsitzende Michael Then den diesjährigen Preisträger. Damit sei der Literat gemeint, denn, so ein jiddisches Sprichwort, "Die Feder schießt schärfer als ein Pfeil", erklärte Then laut Redemanuskript. Und mit "Schärfe" meine er nicht die Polemik, sondern die Tiefe der Analyse, die das Werk des 1947 geborenen Gastprofessors ausmache.

Besonders schätze Then, dass der Geschwister-Scholl-Preis auch in diesem Jahr nicht nur historische Stoffe würdige, sondern mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingsdiskussion und den heutigen Antisemitismus einen Bezug zur Gegenwart habe. Und Alys Buch weise darüber hinaus in die Zukunft: "Denn es gibt Handlungsanweisungen, wie wir leben müssen, damit so etwas nicht mehr passieren kann."

Wichtig: Nicht stumm bleiben

Eine der wichtigen Voraussetzungen dafür sei es, nicht stumm zu bleiben. "Ein Buch wie dieses warnt einmal mehr davor, gleichgültig wegzuschauen", betonte der städtische Kulturreferent Hans-Georg Küppers vor Journalisten. Er hoffe, dass dann niemals ein Buch mit dem Titel "Europa gegen die Flüchtlinge" geschrieben werden müsse. Spannend finde er auch den europäischen Kontext des Werks, der - ohne die Schuld der Deutschen zu relativieren - auch die Judenverfolgung in anderen Ländern zum Thema mache.

"Natürlich hat so ein Buch Angriffsflächen": Auch Münchens Oberbürgermeister ging auf Alys Streitbarkeit ein. Mit seinen mutigen Thesen habe er einige Gewissheiten der Holocaustforschung ins Wanken gebracht und sei eine "Reizfigur", die immer wieder kontrovers diskutiert und von scharfem Widerspruch begleitet werde, betonte Reiter. In jedem Fall aber belebten die "Quellenfunde, seine akribisch herausgearbeiteten Thesen und sein zuspitzendes Temperament das Forschungsfeld immer wieder aufs Neue."

Der Geschwister-Scholl-Preis zeichnet Bücher aus, die bürgerliche Freiheit und moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut fördern. Zu den bisherigen Preisträgern gehören unter anderem Hisham Matar, Joachim Gauck und Heribert Prantl.