Herr Joelsen, welche Folgen hatte die Pogromnacht am 9. November 1938 für Sie?

Joelsen: Kurz nach dieser schrecklichen Nacht ging ich zu der Wiese, wo meine Freunde Fußball spielten. Aber diesmal war alles anders. Als ich hinkam, hörten sie auf zu spielen, einer nahm den Ball. Alle drehten sich zu mir, sahen mich an. Keiner sagte ein Wort. Eine gespenstische Situation. Aber mir war klar: Jetzt wissen sie's - Joelsen Halbjude. Ich drehte mich um, ging weg, und sie spielten weiter. Für einen Zwölfjährigen ist das eine Katastrophe: auf einen Schlag alle Freunde zu verlieren.

Seit jener Nacht 1938 habe ich begriffen, dass es beide gibt: die, für die ich Mensch bin, geeignet für Freundschaft, Kollegenschaft, Liebe. Und jene, für die ich immer der sogenannte Halbjude bleibe.

 

1944 kamen sie in ein Zwangsarbeiterlager der Gestapo nach Thüringen. Was haben Sie dort erlebt?

Joelsen: Zeitweise schaufelten wir täglich sechs, acht, zehn Stunden Kies in Eisenbahnwaggons. Wir arbeiteten hinter einem Drahtzaun. Da kamen Schulkinder. Sie wussten, wer wir waren, und warfen Steine über den Zaun nach uns. Dann kam eine Ordensschwester. Sie wusste auch, wer wir waren. Sie warf Brot über den Zaun. Wir fühlten uns reich beschenkt.

 

Europaweit sitzen mittlerweile wieder Rechtspopulisten in den Parlamenten. Wie geht es Ihnen damit?

Joelsen: Wenn ich in Schulen manchmal meine Geschichte erzählt habe, haben Schüler gefragt:

"Haben Sie Angst, dass das wieder passiert?" Ja, ich habe Angst.

Sie sind ja schon längst wieder unter uns, die nicht sagen: Ich Mensch, du Mensch, wir Menschen. Sondern die sagen, dass es auf die Unterscheidung ankommt: Ich Deutscher, du Afghane oder Syrer oder Eritreer. Ich weiß, du schwarz. Ich Christ, du Moslem oder Jude. Ich Einheimischer, du Fremder, Nicht-Dazugehöriger. Ich habe Angst vor denen, die die Welt wieder zerreißen, die diesen wunderbaren geschwisterlichen Begriff Mensch einfach vergessen.