Sophie Scholl wurde zur Ikone des Widerstands. Etwa 600 Straßen und 200 Schulen sind nach ihr benannt. Wenig bekannt ist die Verbindung der Geschwister Scholl zum Kommunisten Richard Scheringer und seiner Frau. Regelmäßig waren Sophie Scholl und ihr Bruder Hans bei den Scheringers auf dem Köschinger Dürrnhof zu Besuch, zuletzt eine Woche vor ihrer Verhaftung.
Jugend unter dem Hakenkreuz
Sophie Scholl war das vierte der insgesamt sechs Kinder von Robert und Magdalena Scholl: Inge (1917-1998 ), Hans (1918- 1943), Elisabeth (1920 - 2020), Sophie, Werner (1922-1944) und die 1925 geborene Thea, welche im Alter von neun Monaten verstarb. Während Robert Scholls Zeit als Bürgermeister von Forchtenberg ab 1919 erleben die Geschwister im "beschaulichen Kochtertal" eine unbeschwerte Kindheit. 1932 zieht die Familie wegen einer neuen Arbeitsstelle des Vaters als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater nach Ulm. In direkter Nachbarschaft der Scholls lebt die Familie Heisch, die Familien sind befreundet. Marianne Heisch ist die spätere Ehefrau von Richard Scheringer, ihr Bruder und Hans Scholl waren Klassenkameraden. Sophie Scholl ist künstlerisch begabt, zeichnet und lernt Klavierspielen. Robert Scholl legt Wert darauf, seinen Kindern kritisches und eigenständiges Denken zu vermitteln. Das Diskutieren über Politik gehört zum Familienalltag.
Sophie Scholl ist 11 Jahre alt, als Hitler 1933 an die Macht kommt. Zum großen Missfallen des Vaters schließen sich seine Kinder den Jugend- und Nachwuchsorganisationen der NSDAP an. Nach einiger Zeit trüben erste Risse die anfängliche Euphorie der Geschwister: Hans Scholls Lieblingsautoren wie Stefan Zweig oder Fritz von Unruh werden von den Nationalsozialisten verboten. Desillusioniert kehrt er 1935 vom Reichsparteitag in Nürnberg zurück. Ihm ist klar geworden, dass seine Werte und Überzeugungen mit dem Nationalsozialismus nicht vereinbar sind. Aus der Hitlerjugend zieht er sich zurück. Auch bei Sophie wachsen Zweifel. Als ihre jüdische Freundin Luise Nathan wegen deren "nicht-arischer" Abstammung nicht Mitglied der Hitlerjugend werden darf, protestiert die damals 14jährige Sophie Scholl in ihrer BDM-Gruppe:
"Warum darf Luise, die blonde Haare und blaue Augen hat, nicht Mitglied sein, während ich mit meinen dunklen Haaren und dunklen Augen BDM-Mitglied bin?"
Die Geschwister Scholl verbringen ihre Sommerferien 1936 auf dem Dürrnhof in Kösching. Richard Scheringer schreibt in seiner "biografischen Chronik", Hans Scholl sei "beglückt" gewesen, "mit anderen Gegnern Hitlers zu sprechen, ganz gleich aus welchen Motiven diese Gegnerschaft erwächst."
Hans und sein jüngerer Bruder Werner Scholl schließen sich der bündischen Gruppe "Deutsche Jungenschaft vom 1. November 1929" an. Sophie darf als Mädchen zwar nicht an den Treffen teilnehmen, aber sie gehört zum Freundeskreis der Gruppe und lernt hier u.a. die Werke von Augustinus und Thomas von Aquin kennen. Glaube und Religion prägen ihre Einstellung zum Leben. 1937 werden Inge, Hans und Werner Scholl wegen "Zugehörigkeit zu einer verbotenen Organisation" verhaftet und für einige Wochen inhaftiert. Diese erste persönliche Konfrontation mit der unerbittlichen Härte des NS-Regimes gegenüber Andersdenkenden hinterlässt Spuren. Hans Scholl schreibt zu jener Zeit auf die erste Seite eines seiner Lieblingsbücher:
"Reißt uns das Herz aus dem Leibe – und ihr werdet euch tödlich daran verbrennen.
Im selben Jahr lernt Sophie Scholl bei einer Freundin in Ulm Fritz Hartnagel kennen. Die Beziehung zwischen ihr und dem vier Jahre älteren Hartnagel ist in zahlreichen Briefen dokumentiert. Nach dem Abitur beginnt Sophie Scholl im Jahr 1940 eine Ausbildung als Kindergärtnerin am Fröbelseminar bei Ulm. Ein Jahr zuvor hat der zweite Weltkrieg begonnen. Fritz Hartnagel ist Offiziersanwärter. Sophie Scholl und Fritz Hartnagel führen intensive Diskussionen über die Verantwortung eines Soldaten für sein Volk:
"Die Stellung eines Soldaten dem Volk gegenüber ist für mich ungefähr die eines Sohnes, der seinem Vater und seiner Familie schwört, in jeder Situation zu ihm oder ihr zu halten. Kommt es vor, daß der Vater einer anderen Familie Unrecht tut und dadurch Unannehmlichkeiten bekommt, dann muß der Sohn trotz allem zum Vater halten. Soviel Verständnis für Sippe bringe ich nicht auf. Ich finde, daß immer Gerechtigkeit höher steht als jede andere, oft sentimentale Anhänglichkeit." (Aus einem Brief von Sophie Scholl an Fritz Hartnagel vom 23. September 1940)
Im April 1941 absolviert Sophie Scholl in Krauchenwies den für junge Frauen verpflichtenden Arbeitsdienst. Obligatorisches Begleitprogramm sind ideologische Schulungen, Frühsport und Appelle. "Man vertrödelt sehr viel Zeit mit Herumstehen", schreibt Sophie am 10. April 1941 entnervt nach Hause.
Im Sommer 1942 ist Sophie Scholl gerade in Ulm bei den Eltern, als ihr Vater verhaftet wird. Robert Scholl wurde von einer Büromitarbeiterin denunziert, weil er Hitler als "die größte Gottesgeißel" bezeichnet habe. Er muss für vier Monate ins Gefängnis. Im Mai beginnt Sophie ihr Studium der Philosophie und Biologie in München. Hans Scholl hat sich für die Medizin entschieden. Im Münchner Freundeskreis ihres Bruders trifft Sophie auf Gleichgesinnte.
Die "Weiße Rose" in München
Im Frühjahr 1942 kursieren in München Flugblätter mit Predigten von Clemens August Graf von Gahlen. Der Bischof von Münster hatte die Ermordung geistig Erkrankter und Behinderter angeprangert und zu Widerspruch aufgerufen. Hans Scholl bekommt eines dieser Flugblätter in die Hände und sagt: "Endlich hat einer den Mut gefunden."
Im Juni 1942 erscheint das erste Flugblatt der "Weißen Rose". Ob Sophie Scholl an den ersten vier Flugblättern beteiligt war, kann anhand der historischen Quellen nicht eindeutig geklärt werden. Ihre Schwester Elisabeth, die spätere Ehefrau von Fritz Hartnagel, geht jedoch davon aus, dass Sophie von Anfang an durch ihren Bruder eingeweiht war. Bereits im Sommer 1942 habe sie Fritz Hartnagel um 1.000 RM und einen Beschaffungsschein für ein Vervielfältigungsgerät gebeten.
Ende Juli bis Anfang November 1942 müssen Hans Scholl, Alexander Schmorell und der vor kurzem zum Freundeskreis gestoßene Willi Graf an die "Ostfront". Nach ihrer Rückkehr setzen die Freunde gemeinsam mit Sophie Scholl ihre Widerstandsaktivitäten fort. Seit Ende November 1942 ist die 6. Armee bei Stalingrad eingekesselt.
Im Dezember 1942 trifft Sophie Scholl ihre Freundin Susanne Hirzel, die in Stuttgart Musik studiert, zum letzten Mal. Während beide die Römerstraße hinunter gingen, habe Sophie zu ihr gesagt:
"Wenn jetzt der Hitler käme, und ich eine Pistole hätte, würde ich ihn erschießen. Wenn's die Männer nicht machen, muss es eben eine Frau machen."
Am 13. Januar 1943 fordert Gauleiter Paul Giesler in einer Festrede an der Münchner Universität die Studentinnen auf, weniger zu studieren und dafür "dem Führer bald ein Kind zu schenken". Es kommt zu tumultartigen Protesten der Studierenden. Dieses Ereignis weckt bei den Mitgliedern der "Weißen Rose" Hoffnung, bei ihren Mitstudierenden weitere Verbündete zu finden. Das fünfte Flugblatt erscheint mit der Überschrift "Kommilitoninnen! Kommilitonen!". In der Nacht zum 4. Februar 1943 beschriften Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf etwa an 70 Stellen öffentliche Münchner Gebäude mit grüner, nicht wasserlöslicher Farbe. Sie malen durchgestrichene Hakenkreuze und schreiben: "Hitler, der Massenmörder", "Nieder mit Hitler", "Freiheit". Diese nächtliche, lebensgefährliche Aktion wiederholen sie in den folgenden Nächten zwei Mal.
Seit 1942 ist Elisabeth Scholl bei den Scheringers als Kindermädchen beschäftigt. Regelmäßig kommen ihre Geschwister sie dort besuchen. Auch an einem Tag Anfang Februar 1943 fahren Hans und Sophie Scholl auf den Dürrnhof nach Kösching, unterhalten sich lange mit
Marianne Scheringer und wollen ihren Mann sprechen, der gerade nicht da ist. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Richard Scheringer: "Als ich heimkam, waren sie schon wieder fort. Ich sagte zur Liesl (Anm. d. Verf.: Gemeint ist Elisabeth Scholl), sie sollten vorsichtig sein."
Verhaftung und Hinrichtung
Mit etwa 1.800 Exemplaren des sechsten Flugblattes machen sich Hans und Sophie Scholl am 18. Februar morgens auf den Weg zur Universität. Kurz vor Vorlesungsbeginn legen sie im Gebäude Flugblätter aus, verlassen die Universität - und kehren wieder um. Spontan entscheiden sie, auch die letzten in ihren Taschen verbliebenen Exemplare zu verteilen. Tollkühn kippt Sophie die letzten Flugblätter aus ihrer Tasche von der Brüstung des Atriums in den Lichthof. Der Hausmeister Jakob Schmied beobachtet die Geschwister, informiert umgehend den Direktor und die SS. Die Gestapo verhaftet Hans und Sophie Scholl. Bei Hausdurchsuchungen findet die Gestapo einen Flugblattentwurf von Christoph Probst, er wird ebenfalls festgenommen.
Auf der Rückseite der ihr am Tag vor der Gerichtsverhandlung ausgehändigten Anklageschrift schreibt Sophie Scholl in kunstvoller Schrift: "Freiheit".
Am 22. Februar 1943 stehen die Geschwister Scholl und Christoph Probst vor dem Münchner Volksgerichtshof unter Vorsitz des berüchtigten nationalsozialistischen Strafrichters Roland Freisler (1893-1945). Die Anklage lautet: "landesverräterische Feindbegünstigung, Vorbereitung zum Hochverrat, Wehrkraftzersetzung". Nach den Motiven ihres Handelns befragt, antwortet Sophie Scholl:
"Einer muß ja doch schließlich damit anfangen. Was wir sagten und schrieben, denken ja so viele. Nur wagen sie nicht, es auszusprechen ... Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte."
Die Angeklagten werden zum Tod durch das Fallbeil verurteilt. Das Urteil wird noch am selben Tag vollstreckt.
Von der Hinrichtung ihrer Geschwister erfährt Elisabeth Scholl in einem Ingolstädter Café aus der Zeitung, wie sie 2013 gegenüber der "Augsburger Allgemeinen" erzählte: "Nachdem ich vom gewaltsamen Tod von Hans und Sophie wusste, bin ich bis abends nur planlos herumgeirrt."
Die Beisetzung von Hans und Sophie Scholl findet im engsten Familienkreis am Friedhof Perlacher Forst in München statt. Die Gestapo sperrt den Friedhof ab. Kaum ist die Familie Scholl zurück in Ulm, erfolgt ihre Inhaftierung. Es gilt "Sippenhaft". Auf dem Dürrnhof findet eine Hausdurchsuchung statt, Richard Scheringer und Elisabeth Scholl werden vernommen. Der Name "Richard Scheringer" taucht in mehreren Vernehmungsprotokollen von Mitgliedern der "Weißen Rose" auf, inhaftiert wird er nicht.
In den nächsten Monaten verhaftet die Gestapo etwa 30 Personen im Zusammenhang mit der "Weißen Rose". Alexander Schmorell, Prof. Kurt Huber und Willi Graf sind die Hauptangeklagten im Prozess am 19. April 1943, sie werden zum Tode verurteilt. Weitere Angeklagte erhalten Gefängnisstrafen – unter ihnen auch Sophies Freundin Susanne Hirzel.
Die "Weiße Rose" lebte weiter, es bildeten sich neue Widerstandsgruppen, die sich überwiegend aus Studierenden zusammensetzten. Zur erhofften Opposition einer Mehrheit gegen den Nationalsozialismus kam es nicht.
In der Nacht vor ihrer Hinrichtung hatte Sophie Scholl einen Traum:
"Ich trug an einem sonnigen Tag ein Kind in langem weißem Kleid zur Taufe. Der Weg zur Kirche führte einen steilen Berg hinauf. Aber fest und sicher trug ich das Kind in meinen Armen. Da plötzlich war vor mir eine Gletscherspalte. Ich hatte gerade noch soviel Zeit, das Kind sicher auf der anderen Seite niederzulegen – dann stürzte ich in die Tiefe."
Literatur und Quellen
BayHStA, NL Graf, Willi 96: Urteilsbegründung des Volksgerichtshofs, 1. Senat, "auf Grund der Hauptverhandlung am 22. Februar 1943"
BayHStA, NL Knoop-Graf, Anneliese 134: Schmorell, Alexander; Scholl, Sophie; Scholl, Hans; Graf, Willi; Huber, Kurt; Probst, Christoph: "Die Weiße Rose/Gesichter einer Freundschaft", Ausstellungskatalog, Freiburg, Kulturinitiative Freiburg, 2004
Scholl, Inge: "Die Weiße Rose", S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1986
Scholl, Hans und Scholl, Sophie: "Briefe und Aufzeichnungen", S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1988
Chaussy, Ulrich und Ueberschär, Gerd R.: "Es lebe die Freiheit! Die Geschichte der Weißen Rose und ihrer Mitglieder in Dokumenten und Berichten", S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013
Drobisch, Klaus (Hrsg.): "Wir schweigen nicht/Die Geschwister Scholl und ihre Freunde", Union Verlag Berlin, Berlin 1972 (2. Auflage)
Scheringer, Richard: "Das große Los unter Soldaten, Bauern und Rebellen", Berlin 1961, S. 505, 507 ff zit. nach "Richard Scheringers Bericht über seine Verbindungen mit der Familie Scholl" in Drobisch, Klaus: "Wir schweigen nicht"
Scheringer, Richard: "Eine biografische Chronik", Privatarchiv der Familie Scheringer
Ammon, Herbert: "Die Geschichte der ,Weißen Rose‘ und ihre Rezeption", Globkult Magazin, 18.10.2024 https://www.globkult.de/geschichte/personen/2403-die-geschichte-der-weissen-rose-und-ihre-rezeption (zuletzt aufgerufen am 11.12.2024)
Donaukurier (ohne Angabe d. Verf.) vom 08.01.2009: "Spurensuche auf dem Dürrnhof"
https://www.donaukurier.de/archiv/spurensuche-auf-dem-duerrnhof-5598115
(zuletzt aufgerufen am 11.12.2024)
Harnack, Falk: "Es war nicht umsonst/Erinnerungen an die Münchener revolutionären Studenten von Dr. Falk Harnack (1947)", Typoskript in: https://www.ifz-muenchen.de/archiv/zs/zs-2033.pdf (zuletzt aufgerufen am 11.12.2024)
Illinger, Steffi: "Sophie Scholl - Eine junge Frau im Widerstand", Bayern 2 Radiowissen vom 3.5.2021 https://www.ardaudiothek.de/episode/radiowissen/sophie-scholl-eine-junge-frau-im-widerstand/bayern-2/88777972/ (zuletzt aufgerufen am 11.12.2024)
Mayr, Sebastian und Frei, Andreas: "Welche Spuren die Geschwister Scholl hinterlassen haben" Augsburger Allgemeine vom 21.02.2018, https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Aus-dem-Archiv-Welche-Spuren-die-Geschwister-Scholl-hinterlassen-haben-id44285586.html (zuletzt aufgerufen am 11.12.2024)
Rothemund, Marc (Regie) und Beinersdorfer, Fred (Autor): "Sophie Scholl – Die letzten Tage", Spielfilm Deutschland 2005
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