Der Soziologe Berthold Vogel fürchtet Verteilungskämpfe und Neiddebatten in Deutschland als mittelbare Folge des Ukraine-Krieges. Mit Blick auf die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und drastisch steigende Lebenshaltungskosten sagte der Sozialforscher dem Evangelischen Pressedienst (epd):

"Die Zeiten, die auf uns zukommen, können wir nur als kollektive Aufgabe bewältigen."

Der soziale Frieden könne nur durch einen leistungsfähigen Sozialstaat, eine aktive, demokratische Gesellschaft und ein hohes Maß an Zusammenhalt und Gemeinsinn erhalten werden. Vogel leitet das Soziologische Forschungsinstitut an der Georg-August-Universität in Göttingen und ist Sprecher des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt.

Hilfe für Geflüchtete nicht an individuelle Moral koppeln

Die Hilfe für Flüchtlinge dürfe langfristig nicht an die individuelle Moral und das Engagement Einzelner gekoppelt sein, sagte Vogel, sondern müsse institutionell verankert werden. Eine zentrale Rolle spiele dabei die öffentliche Infrastruktur.

"Ob Schulen, Schwimmbäder, Läden für den täglichen Bedarf, Gesundheits-, Beratungs- und Therapieangebote: Das sind kollektive Leistungen, die für sozialen Ausgleich sorgen."

Die Vor-Ort-Angebote böten Rat und Tat im Alltag und suchten im Kleinen konkret nach Lösungen für die Menschen.

Vereine, Kirchen und Gewerkschaften unerlässlich für Gemeinwohl

Forschungen hätten immer wieder gezeigt, dass "soziale Orte auf lokaler Ebene", wie sie Vereine, Kirchen, Gewerkschaften, die öffentliche Verwaltung und lokale Wirtschaft bieten, unerlässlich sind für Gemeinwohl und gesellschaftliches Zusammengehörigkeitsgefühl. Leider sei diese so wichtige soziale Infrastruktur in der Vergangenheit vernachlässigt worden, sagte Vogel.

Es brauche daher ein Investitionsprogramm, das die Kommunen mit Sachmitteln und Personal stärkt. "Sonst verschwindet demokratisch organisierter Zusammenhalt", sagte Vogel. Es bestehe dann die Gefahr, dass in diesen Lücken autoritäre Gruppen zu "Kümmerern" werden. Das gelte es zu verhindern.

Wohlstandsverlust droht

Zudem drohe ein Wohlstandsverlust nicht nur Menschen zu treffen, die kaum über "materiellen Puffer" verfügten, sondern auch die soziale Mitte. Das müsse von Politik und Wirtschaft deutlich so gesagt werden.

"Mit ein paar Benzingutscheinen und Steuernachlässen das Gefühl geben, dass alles beim Alten bleibt, ist keine gute Strategie."

Der Soziologe appellierte in diesem Zusammenhang an die Menschen, ihre Definition von Wohlstand zu hinterfragen. "Was heißt denn Wohlstandsverlust?", fragte er. "Eine Urlaubsreise weniger, der Verzicht auf den Drittwagen oder ein Leben ohne das neueste Smartphone?" Wohlstand bedeute viel mehr, in Frieden und in einer freien, sicheren, demokratischen Gesellschaft leben zu können.