Vaclav Havel und seine Geschichte
Ein Mann im Gefängnis, ein den Sicherheitsdiensten bekannter Schriftsteller und Regimekritiker– verurteilt zu 4 ½ Jahren "verschärften Strafvollzugs" – offizieller Vorwurf: Rowdytum. Der wirkliche Grund: sein Einsatz gegen das herrschende Regime, sein Kampf gemeinsam mit Gleichgesinnten für Hoffnung und Freiheit in seinem Land. Das ist es, was ihn letztlich ins Gefängnis bringt. Er ist 43 Jahre alt. Der einzige Kontakt nach außen sind die Briefe an seine Frau. Ihr berichtet er von einem seiner Rundgänge im Gefängnishof – als sein Blick durch all die Gitter, Stacheldrähte und Wachtürme hindurch in einer Baumkrone hängen blieb und sich im Spiel der Blätter im Wind verfing. Er geriet in ein tiefes Staunen und fand sich plötzlich inmitten einer besonderen, geheimnisvollen Erfahrung, die er so beschreibt: "Uferlose Freude, dass ich lebe – uferlose -Freude, dass mir gegeben war, all das zu durchleben, was ich durchlebt habe, und dass dies offenbar irgendeinen tieferen Sinn hat."
So nachzulesen in einem Brief von Vaclav Havel an seine Frau Olga. Havel war Mitbegründer der Charta 77, einer Bürgerrechtsbewegung, die zum Zentrum der Opposition in der Tschechoslowakei wurde. Er schrieb und demonstrierte seit den 60er Jahren für Menschen- und Bürgerrechte, für Freiheit und Demokratie. Mehrmals saß er deswegen im Gefängnis. Nach der "Samtenen Revolution" 1989, dem vorwiegend gewaltfreien Übergang der Tschechoslowakei in eine Demokratie, wurde Vaclav Havel ihr erster Präsident.
Von Vaclav Havel wird gesagt, dass er kein Träumer war, sondern jemand mit einem guten Gespür für Menschen und politische Konstellationen. Ein Realist also, aber einer mit einer großen Liebe zum Leben. Von ihm stammt der Satz: "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht." ( aus: Jörg Lauster, Die unsterbliche Kraft des Christentums, Publik Forum Dossier Januar 2016, S. 12)
Einer seiner Freunde hat gesagt: Wenn man diesen Satz hört, dann muss man sich einen lachenden Mann in Jeans und Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln vorstellen: So war Vaclav Havel.
Und so – auf diesem Hintergrund, bekommt die Erzählung aus dem Gefängnis einen Rahmen:
- Seine Überraschung, sich trotz der Gefängnismauern frei zu fühlen
- Sein Erlebnis, zwischen Gittern, Stacheldrähten und Wachtürmen – einer unbarmherzigen Behandlung durch das Sicherheitspersonal ausgesetzt das zu spüren: eine uferlose Freude am und im Leben zu sein, eine tiefe Gewissheit, dass trotz Gefangenschaft sein Leben nicht sinnlos ist, sein Kampf nicht sinnlos ist, sein Einsatz nicht sinnlos ist.
Freiheitsgeschichten lesen als Geschichten von Gotteserfahrung
Gefängnisaufenthalte gehören in der Regel nicht zu unseren Lebenserfahrungen – Situationen und Gefühle der Enge, der Unfreiheit, der Beklemmung schon – zu den besonderen Erfahrungen gehört es, wenn ich, gefangen in einer solchen Situation plötzlich erlebe und spüre: Ich bin nicht verloren, ich bin nicht ausgeliefert, nicht zum Aufgeben verurteilt.
Mitten in der Bedrohung Rettung zu erleben – das ist das Thema vieler biblischer Geschichten. Auf den ersten Blick kommen sie oft daher wie einfach gestrickte Wundererzählungen oder phantasievolle Märchen. Vielen Zeitgenossen erscheinen sie bisweilen naiv, unglaubwürdig und lebensfremd.
Diesen Eindruck könnte auch die folgende Geschichte hinterlassen – aber mit den Gefängniserfahrungen von Vaclav Havel im Hinterkopf wird aus der naiven Bibelgeschichte eine starke und bewegende Erzählung.
Paulus und Silas im Gefängnis
Wir befinden uns im 1. Jahrhundert nach Christus. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Paulus und Silas, die auf ihren Missionsreisen auch durch Philippi kommen. Dort geraten sie in Konflikt mit einer Wahrsagerin und werden letztlich wegen Anstiftung zum Aufruhr und angeblichen Angriffs gegen die Rechte und Traditionen Einheimischer geschlagen und misshandelt:
Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Gefängniswärter, sie besonders gut zu bewachen. Befehlsgemäß warf er sie in das innerste Gefängnis und schloss ihre Füße in den Holzblock.
Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und sangen Gott Loblieder. Die anderen Gefangenen hörten ihnen zu. Plötzlich gab es ein starkes Erdbeben, das die Fundamente des Gefängnisses erschütterte. Da sprangen alle Türen auf, und die Ketten fielen von den Gefangenen ab. Der Gefängniswärter wurde aus dem Schlaf gerissen. Als er sah, dass die Gefängnistüren offenstanden, zog er sein Schwert und wollte sich töten. Denn er dachte: Die Gefangenen sind entflohen. Aber Paulus schrie laut: "Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier." Der Wärter rief nach Licht. Er stürzte in die Zelle und warf sich zitternd vor Paulus und Silas nieder. Dann führte er sie hinaus und frage: "Ihr Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?" Sie antworteten: "Glaube an den Herrn, Jesus, dann wirst du gerettet und mit dir alle in deinem Haus." Und sie verkündeten ihm und allen anderen in seinem Haus das Wort des Herrn. Noch in derselben Nachstunde nahm der Wärter Paulus und Silas zu sich. Er wusch ihnen die Wunden aus. Dann ließ er sich umgehend taufen und mit ihm alle, die in seinem Haus lebten. Anschließend führte er die beiden in sein Haus hinaus und lud sie zum Essen ein. Die ganze Hausgemeinschaft freute sich, dass sie zum Glauben an Gott gefunden hatte. (Apg. 16, 23-34; Basisbibel)
Was für eine Geschichte und welche Umkehrung der Verhältnisse! Die Gefangenen singen sich frei, und der Freie, der Gefängniswärter, wird mehr oder minder zum Gefangenen seiner Angst, die fast im Tode endet. Traditionell würde man sagen: Es handelt sich hier um eine Bekehrungsgeschichte: Der Gefängniswärter und sein ganzes Haus finden zum Glauben an Gott. Ich kann sie aber auch ganz einfach so hören: als eine Freiheitsgeschichte, die in einer Welt voller Gefängnisse immer wieder neu zu erzählen ist: all den Menschen, die gefangen sind in echten und ganz persönlichen Gefängnissen:
- die psychisch Kranke, die sich zwanghaft wäscht und bewegt und sich kaum mehr unter Leute traut.
- oder der von Ängsten geplagte Manager, der unter dem Diktat von Kennzahlen und Zielvorgaben kaum noch atmen kann, geschweige denn kreativ arbeiten –wo das doch so wichtig wäre, um die gesetzten Ziele erreichen zu können. Wie in einer Zwangsjacke kommt er sich vor.
- die Unzähligen in Gefängniszellen, auch in Europa: Journalisten, die ihre Arbeit redlich tun, aber dem Regime nicht nach dem Mund reden, Lehrer, die ihre Schüler zu kritischen Demokraten erziehen und sich den Herrschenden damit verdächtig machen.
Die Geschichte von Paulus und Silas im Gefängnis erzählt von einer ungeahnten Veränderung, von einem überraschenden Wandel: Der das System unterstützt und sich stark und frei wähnt, der findet sich mit einem Mal als Gefangener vor. Und die Gefangenen und Verurteilten, gebunden und in Ketten, erleben die Freiheit: Paulus und Silas, aber eben auch Vaclav Havel.
Kraft und Stärke gesungener Gebete
Das Singen ist, wenn man so sagen will, in dieser biblischen Geschichte der Auslöser, die Initialzündung zur Freiheit. Paulus und Silas sind Gefangene unter verschärften Haftbedingungen. Aber auch unter diesen lebensfeindlichen Umständen wissen sie sich von Gott getragen und getröstet, gehalten von ihrem Glauben. Das lässt sie singen – auch zum tiefsten Punkt der Nacht. Sie singen zum Lobe Gottes, wie es in der Bibel heißt. Ihr Singen und ihre Gebete in der buchstäblichen Dunkelheit sprengen am Ende die Fesseln.
Können Lieder so kraftvoll sein? Kann ein Lied in die Freiheit führen? Ich entdecke diese Kraft und Stärke in besonderer Weise in Spirituals und Gospels. Entstanden unter den Sklaven im Amerika des 17./18. Jahrhunderts erzählten diese Lieder von dem Leben geschundener und gequälter Menschen, von ihrem Leid, aber auch von ihrer Hoffnung. Diese Männer, Frauen, Kinder, die ihren Besitzern völlig ausgeliefert waren, fühlten sich wie das Volk Israel in seiner Gefangenschaft. Vor allem die Spirituals knüpfen an diese Geschichte an, erzählen von Widerstand, von Aufbruch und Befreiung. Es sind Lieder voller Sehnsucht und Zuversicht. In Wechselgesängen ermutigen die Singenden sich gegenseitig, die Hoffnung wach zu halten und sich ihrer immer wieder zu vergewissern. So wie in "Go down Moses", das Lied, das sogar zu einer Art Freiheitshymne wurde.
Ein eigener Sonntag fürs Singen: Kantate
Wir feiern heute den Sonntag Kantate – den Singesonntag des Kirchenjahres. "Cantate Domino" – "Singt dem Herrn", daher hat der Sonntag diesen Namen. Dieser Sonntag knüpft an an die großen Lieder; Hymnen und Musiktraditionen der Christenheit – in der Kirche und darüber hinaus.
"Die Gemeinde soll singen." – das ist in der evangelischen Kirche seit Luther Programm. Martin Luther hat Psalmen umgedichtet, altkirchliche Hymnen ins Deutsche übertragen und Erzähllieder geschrieben – damit die Gemeinde ins Singen komme. Aber er hat auch geistliche Kinderlieder verfasst. Denn ihm lag es besonders am Herzen, dass Kinder eine ordentliche Schulung im Singen erhalten: "Kinder müssen singen und die Musica mit der ganzen Mathematica lernen.", so Luther. Er wusste: Singen ist etwas Intimes. Da muss sich die Seele sich trauen können. Und das will früh geübt sein – denn der singende Mensch gibt sich seinen Mitmenschen preis – er zeigt sich, zeigt seine Stimmung, zeigt seine Überzeugungen.
Ich habe mit meinen Kindern viel gesungen. Zwei große Kinder-Liederbücher hatten wir, sie waren oft in Gebrauch. Beim Schlafengehen aber sangen wir auswendig. Ganz besonders lieb wurde mir abends am Bett meiner Kinder das Abendlied von Rudolf Alexander Schröder "Abend ward, bald kommt die Nacht" – Worte voll gewisser, fast trotziger Hoffnung, die die Melodie von Samuel Rothenberg trefflich in Töne fasst.
Wenn ich in die Melodie dieses Liedes einstimme, wird der Text zu meinem Text, ich stimme mit meinem Atem ein in die gedichtete Zuversicht.
Das ist das Geheimnis von Schlafliedern: die Emotion der Melodie geht auf das Kind über: es kann ruhig werden und schlafen.
Lieder und Hymnen prägen mein Leben und meinen Glauben: für mich ist keine Weihnachtszeit vorstellbar, in der ich nicht "Ich steh an deiner Krippen hier" singe oder "Fröhlich soll mein Herze springen". An Ostern ist es der strahlende Osterhymnus "Christ ist erstanden", der mich Ostern erleben lässt. Dazu kommen auch die großen Konzerte zu Weihnachten und in der Passionszeit.
Wenn in der Passionszeit die Streicher sanft und leise die Johannespassion eröffnen und der Chor dann kräftig einsetzt, als wollte er uns aufwecken: "Herr! Herr! Herr unser Herrscher". Der Chor nimmt mich hinein in die Leidensgeschichten Jesu. Aus der geschriebenen Geschichte wird durch die Musik ein Glaubensereignis für mich: Das große Bekenntnis zum Herrn, dem Herrscher, mündet am Ende in ein Schlaflied, das ich mir auch als letztes Lied in meinem Leben vorstellen kann:
"Ach, Herr, lass dein lieb Engelein,
am letzten End die Seele mein
in Abrahams Schoss tragen …
Alsdenn vom Tod erwecke mich,
dass meine Augen sehen dich
in aller Freud, o Gottes Sohn, …
ich will dich preisen ewiglich!"
Der großen Not und Trauer angesichts des Todes stellt dieses Lied Hoffnung und Lobpreis gegenüber, der Traurigkeit das Gefühl der Freude.
Große Emotionen brauchen Lieder: auch das will der Sonntag Kantate in uns lebendig halten. Das Singen ist weniger geworden in unseren Tagen, nicht aber die Musik. Aufführungen großer und bekannter Oratorien erfreuen sich regen Zulaufs. "Manche Menschen glauben nicht an Gott, aber wenn sie Bach hören, werden sie religiös.", so hat es die Wochenzeit DIE ZEIT gerade beschrieben. Ich erkenne darin auch die Sehnsucht vieler, Hoffnung und Zuversicht ganz direkt zu spüren und zu erleben, die Suche vieler, am Glauben früherer Generationen anschließen zu können. Mir geht es jedenfalls so: Jedes Mal, wenn ich eine solche Musik höre, stärkt mich das und ich kann freier atmen.
Das gilt auch für ganz weltliche Lieder, die ich in meiner Biographie als wichtig entdeckt habe.
Von der Freiheit singen
Für mich sind das einige Lieder von Udo Jürgens. Seit ich 15 bin, begleiten sie mich. Damals war es "Cotton fields". In diesem Lied von Kindheit und Jugend in einer Familie von Baumwollfarmern fand ich mich wieder: in aller Unsicherheit im Leben einer Fünfzehnjährigen wusste ich doch: die Liebe in der Familie trägt und hält mich.
Später waren es vor allem die Lieder, in denen Udo Jürgens den Finger auf Erscheinungen der Gesellschaft legte: in den 70er Jahren, im Lied "In diesem ehrenwerten Haus" sang er davon, was da alles scheinbar nicht reinpasste.
Besonders aber begleitet mich das Lied "Ich glaube". Im Jahr 1968 benennt Udo Jürgens darin Gefängnisse ohne Mauern, in denen Menschen gefangen sind, weltweit und oft ein Leben lang. Es geht um Grundbedürfnisse der Menschen und darum, was wir einander zugestehen. Nicht nur damals.
Als ich das Lied das erste Mal hörte, bedrückten mich Bilder von hungernden Kindern in Afrika und Indien. Der Krieg in Vietnam führte uns damals die Sinnlosigkeit und Brutalität von Kriegen vor Augen. Als Anfang des Jahrtausends die Finanzkrise die Welt erschütterte, da tauchte in mir dieses Lied wieder auf – bei jedem Hören und manchmal auch Mitsingen war ich immer wieder berührt davon wie trotz der geschilderten Probleme Melodie und Refrain Herz und Seele tanzen lassen: keine alten Lügen mehr, es gibt Grund, sich zu freuen.
Udo Jürgens war kein religiöser Mensch. Und doch höre ich in seinem Lied etwas von meinem Glauben. Er verwendet keine religiösen Begriffe und doch singt Udo Jürgens von Hoffnung und Zuversicht, von Liebe und Menschlichkeit. In aller Bedrängnis spürt man beim Summen und Singen des Liedes etwas von dieser Freiheit und Freude. Er singt es geradezu heraus: es gibt Grund genug, sich zu freuen.
Hinter allen sogenannten Sachzwängen und politischem Kalkül, hinter den Systemen von Macht und Geld scheint bei Udo Jürgens eine Welt auf, wie sie eigentlich ist: groß und reich genug für alle, weit und bunt und schön. In seinem Lied lösen sich die Gegensätze auf: die Ausgelieferten erscheinen als die Freien und die vermeintlich freien Herrschenden als die Gebundenen. Im Lied erscheint ein größerer Sinn dieser Welt – hinter vordergründigem Sinn oder Unsinn. Sich daran freuen, das macht Sinn. Udo Jürgens ist sich dessen gewiss – auch gegen alle sogenannten Realitäten. Die Melodie hat demzufolge auch nichts von Resignation oder von Träumerei – sie klingt nach Möglichkeit und Hoffnung, stark, trotzig, gewiss. Sie klingt nach der Freiheit, die mehr sieht, als was vor Augen ist. So wie bei Paulus und Silas, so wie bei Vaclav Havel.
Solche Lieder – gehören, ob geistlich oder weltlich, für mich zum Sonntag Kantate: Lieder, in denen man singend Freiheit atmen kann.