Den ganzen Tag im Schlafanzug TikTok-Schauen und nebenbei ein bisschen Homeschooling im Bett. Für den 15-jährigen Simon (Name geändert) aus München war das zu Hochzeiten der Corona-Lockdowns 2020 und 2021 über Monate Realität. Es gab für ihn keine Tagesstruktur mehr, die Eltern konnten nicht im Homeoffice arbeiten und waren die meiste Zeit außer Haus. Irgendwann war auch der Tag-Nacht-Rhythmus dahin - nachts daddelte Simon am Handy oder spielte Playstation, tagsüber schlief er. "Wofür soll ich überhaupt aufstehen?", fragte er sich. Selbst sein Fußballtraining fiel ja wegen der Pandemie aus.

Auswirkungen der Pandemie auch nach Wiedereinführung von Präsenzunterricht spürbar

Als es dann wieder mit Präsenzunterricht losging, fand Simon nicht mehr in seinen "alten" Alltag zurück. Wochenlang suchte die Familie nach einem geeigneten Jugendpsychiater, doch die Wartezeiten sind lang. Als schließlich doch einer gefunden wurde, attestierte er Simon Mediensucht und eine Depression. Und Simon ist kein Einzelfall: Laut dem im März veröffentlichten DAK-Kinder- und Jugendreport hat die Pandemie unter Jugendlichen in Bayern zu mehr Depressionen geführt. Bei den 15- bis 17-Jährigen seien die Neuerkrankungen im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um elf Prozent gestiegen. Bundesweit lag der Wert bei acht Prozent.

"Die zunehmende psychische Belastung junger Menschen ist alarmierend", sagt der Chefarzt der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Regensburg, Christian Rexroth. Das kann auch Gudrun Rogler-Franken, Vorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendpsychiater (BKJPP) in Bayern, bestätigen. In der Corona-Pandemie hätten bestimmte psychische Krankheitsbilder bei jungen Leuten zugenommen: Ängste, Depressionen, Essstörungen und Suchtverhalten, vor allem Mediensucht. Vor allem aber habe die Schwere der Erkrankung zugenommen.

Psychische Krankheitsbilder bei jungen Leuten haben zugenommen

Sie habe fast täglich Jugendliche in ihrer Praxis in München mit suizidalen Absichten, früher sei das einmal im halben Jahr vorgekommen, sagt Rogler-Franken. Ihre Klientel komme meist aus bildungsfernen oder sozial belasteten Familien, in denen die Kinder beim Homeschooling meist auf sich allein gestellt gewesen seien. Viele hätten den schulischen Anschluss verloren und Leistungsängste entwickelt. "Die, die schon vorher schulische Lücken hatten, haben nun noch größere", sagt Rogler-Franken. Einige fühlten sich in Lockdown-Phasen nahezu "ohnmächtig", als ob sie die Kontrolle über ihr Leben verloren hätten.

Einige hätten diesen Kontrollverlust durch Kontrolle übers Essen kompensiert - und seien in einer Essstörung gelandet, sagt Rogler-Franken. Das Problem: Schon vor der Corona-Pandemie hätten Kinder und Jugendliche zum Teil wochenlang auf Psychotherapie-Plätze warten müssen - ambulant wie stationär. Nun sei es noch mal schwieriger geworden, einen Platz zu bekommen. Für Jugendliche mit schweren psychischen Erkrankungen oder gar mit Suizidabsichten ist das eine besonders fatale Entwicklung. Würden sie nicht zügig behandelt, könne sich die Erkrankung verschlechtern, chronifizieren - bis hin zu Suizidabsichten und -versuchen, warnt das kbo-Heckscher-Klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie in München.

Psychotherapie-Plätze sind auch am Uniklinikum Erlangen knapp

Aus der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen heißt es auf Anfrage des Sonntagsblatts, dass man schon vor der Pandemie an der Belastungsgrenze gewesen sei. Vor Corona hätten etwa Jugendliche mit Depressionen - aber ohne Suizid-Absichten - bis zu zwei Monate auf einen Platz warten müssen, derzeit seien es vier bis fünf Monate. Dennoch würde mit jeder anfragenden Familie ein Telefonat geführt, um Lösungen zu finden. Dazu komme der Personalmangel. In der Corona-Pandemie seien etwa viele schwangere Psychotherapeutinnen aus dem Dienst genommen worden.

Auch in Erlangen wurde mit der Rückkehr zum Präsenzunterricht ein Anstieg der Anfragen von Hilfesuchenden verzeichnet. Während des Homeschoolings habe es weniger soziale Ängste und Leistungsängste und auch weniger Vorstellungen wegen schulbezogener Störungen wie ADHS oder Schulvermeidung gegeben. Es sei daher mit Ende des flächendeckenden Homeschoolings absehbar gewesen, "dass die Zahl der Vorstellungen aus ebendiesen Gründen explodierte".

Anteil der als Notfall aufgenommenen Patienten steigt ebenfalls

Das kbo-Heckscher-Klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie in München macht auf ein weiteres Phänomen aufmerksam: Der Anteil der als Notfall aufgenommenen Patienten sei in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen, geplante Aufnahmen seien zurückgegangen, sagt eine Sprecherin. Wartelisten würden aber nicht geführt. Die Patientinnen und Patienten würden je nach Dringlichkeit und Symptomatik behandelt.

Simon hat derweil seinen Weg zurück in den Alltag offenbar gefunden. Er geht noch immer einmal die Woche zur Therapie - und auch wieder regelmäßig zum Fußballtraining und in die Schule. Auch wenn ihm die nach wie vor regelmäßigen Zwangsauszeiten wegen Quarantäne & Co. zu schaffen machen:

"Aber ohne die Therapie würde ich mich wahrscheinlich immer noch fragen, wofür ich eigentlich aufstehen soll."