Könnten Sie zu Anfang etwas vermutlich Unmögliches versuchen und Ihre Spiritualität in einem, vielleicht auch drei Sätzen zusammenfassen?
Richard Rohr: Das geht sogar noch kürzer. Ich bin einmal um eine Zusammenfassung in zwei Wörtern gebeten worden. Okay, im Deutschen ist es ein sehr großes Wort aus zwei nicht weniger großen Wörtern, aber ihr Deutsche seid ja ganz gut mit großen Wörtern. Also: Inkarnationsmystik.
Ich will es erklären: Inkarnation heißt, dass es um die Welt der Materie geht, die physische, die physikalische Welt, um "Fleischwerdung". Mystik beinhaltet dagegen, dass dabei noch weit größere Verbindungen und Zusammenhänge im Spiel sind, dass es um etwas geht, was nicht gefangen ist in dieser Körperlichkeit, sondern etwas, das sich durch die physische Welt auf etwas hinbewegt, das wir geistlich oder spirituell nennen. Der letztliche Effekt: dass wir durch die Materie zum Geist kommen - und dass am Ende beide dasselbe sind.
Das Einzige, was ich dem hinzufüge - Sie haben mir ja ein paar Sätze zugestanden, auch wenn ich da schon drüber bin (lacht) -, und das geht stark auf Jesus und Franz von Assisi zurück: Ich glaube, dass man dabei Partei ergreifen muss für die Entrechteten, für die unten in der Gesellschaft und nicht für die an der Spitze. Sonst wird all das elitär, es wird zu einer Spiritualität, die dich anderen Menschen überlegen fühlen lässt. Wenn dieses Korrektiv nicht irgendwo in deinem Leben da ist, wirst du dich vermutlich verirren. Also: eine Inkarnationsmystik, die nach unten blickt.
Was zur nächsten Frage führt: In dem Lesebuch "Geheimnis und Gnade" mit Richard-Rohr-Texten, das der Claudius Verlag anlässlich Ihres 75. Geburtstags herausgegeben hat, fehlt ein Begriff im Inhaltsverzeichnis: Zweifel. Hat der Zweifel je eine Rolle auf Ihrem spirituellen Weg gespielt?
Rohr: Ich konnte mich in meinem Leben irgendwie der Reihe nach oder sozusagen fortwährend in den Zweifel hinein- und, so glaube ich, auch durch ihn hindurchbewegen. Ich bin wie wahrscheinlich die meisten Protestanten oder Lutheraner meiner Generation ohne viele Zweifel erzogen worden. Man hatte eine Menge Gewissheiten, eine Menge absoluter Antworten. Aber dann kamen die 1960er-Jahre, als ich ein junger Mann war. Und die ganze Kultur trat in einen kulturellen Zweifel an allem ein. Wir nennen das heute Postmoderne. Aber damals hat sich das ja Jahr für Jahr abgespielt, 1962, 1963, 1964, 1965 … Ich konnte mich gewissermaßen durch all das hindurchbewegen und an dem festhalten, was an meinen früheren Gewissheiten gut war, und mich von dem verabschieden, was nicht gut an ihnen war. Ich konnte, wie ich das nenne, die Ordnung und die Unordnung im Gleichgewicht halten.
Was meinen Sie mit Unordnung?
Rohr: Unordnung ist ja, was man Zweifel nennt, wenn ich das an Sie und ihre Leserinnen und Leser gerichtet sagen darf, die Sie aus der lutherischen Tradition kommen. Ich glaube, die protestantische Reformation war die Einführung des notwendigen Zweifels in katholische Gewissheiten, die manchmal zu glatt oder zu naiv sind. Gut, uns Katholiken hat das nicht gefallen, weil wir an unsere Gewissheiten gewöhnt waren. Aber dann mussten Sie natürlich die gleiche Reise durchmachen. Die Lutheraner haben schnell eine Ordnung aus dieser Unordnung geschaffen – und die wurde dann der neue Gott. Wir machen das alle so. Es ist unmöglich, die Reise von der Ordnung zur Unordnung zur Neuordnung zu vermeiden.
Das wäre die theologische Dimension. Wie war es bei Ihnen selbst? Viele Ihrer Leserinnen und Leser suchen Orientierung – auch für schwierige Zeiten, Lebenskrisen. Haben Sie selbst solche Lebens- oder Glaubenskrisen erlebt? Wie sind Sie mit ihnen umgegangen?
Rohr: Tut mir leid, ich hätte das schon bei der Frage zuvor beantworten sollen. Ich wollte nicht theoretisch klingen. Aber für mich persönlich muss ich genau dasselbe sagen: Ich hatte nie die große, singuläre Krise. Aber sozusagen Stück für Stück und Schritt für Schritt, intellektuell, emotional, beziehungsmäßig, sozial. Ich bin dabei durch Jahre gegangen, die von Fragen geprägt waren wie "Bin ich ein Heuchler? Glaube ich das alles wirklich? Habe ich jemals wirklich einen Menschen geliebt? Bin ich aus dem falschen Grund Priester geworden? Bin ich aus den falschen Gründen ins Zölibat gegangen?" Und fast immer lautete die Antwort: "Ja" (lacht) Es war also eine Art innerer, emotionaler, beziehungsmäßiger Zweifel und Selbstzweifel.
"Turn on, tune in, drop out" – dieser vom "Drogen- und Bewusstseinspapst" Timothy Leary in den 60ern geprägte Slogan war eines der Credos Ihrer rebellischen Generation. Vielleicht ist aber nichts radikaler und revolutionärer, als dem Weg von Jesus und Franziskus zu folgen, also den Pfad zu wählen, den Sie eingeschlagen haben. In seiner neuen Papst-Dokumentation "Ein Mann seines Wortes" träumt der Filmemacher Wim Wenders, auch er ein "Alt-68er", von einem starken "franziskanischen Wind", der, wie er hofft, wieder über die Welt fegt. Ist Papst Franziskus ein Hoffnungszeichen?
Rohr: Selbstverständlich liebe ich Papst Franziskus zutiefst! Es ist, als ob ich mein ganzes Leben auf einen Papst wie diesen gewartet hätte. Wir können immer noch nicht ganz glauben, wie es zu seiner Wahl gekommen ist. Wer war das? Man war sich jedenfalls ganz offensichtlich nicht im Klaren darüber, wen man da wählt. Um es mit einem wundervollen lutherischen Wort zu sagen: Gnade. Franziskus hat sich als eine riesige Gnade erwiesen – nicht nur für die katholische Kirche, sondern für die Welt.
Viele auf der ganzen Welt achten diesen Papst als Vertreter nicht der Kirche, sondern des Evangeliums. Genau das, wo Luther die Kirche wieder hinführen wollte. Ein evangeliumsgemäßes Leben – das ist, was Franziskus versucht. Aber er muss auch erfahren, wie schwierig das ist. Es gibt eine Menge Leute, die ihn bekämpfen, die meisten sind Bischöfe, auch deutsche Bischöfe. Wir müssen also für ihn beten. Sein Leben muss hart sein, da bin ich sicher. Man möchte meinen, als Papst könne man absolut und unumschränkt agieren. Aber damit kommt er nicht durch. Leider.
"Jedes Ding hat einen Riss …"
Rohr: Oh ja! …
... so kommt das Licht herein." (There is a crack in everything – that’s how the light gets in).
Rohr: Leonard Cohen!
Ja, ein Liedvers des kanadischen Song-Poeten und Künstlers Leonard Cohen, von dem wir gehört haben, dass Sie ihn sehr mögen. Hat auch der Tod "einen Riss"? Und stimmt es wirklich, wie Sie mal gesagt haben, dass "der ganze Weg zum Himmel schon der Himmel ist"?
Rohr: Schauen Sie, hier wird die Wissenschaft zum besten Freund, den die Religion je hatte. Nehmen Sie die hochrangigen Astrophysiker, Physiker, Biologen – sie alle sagen, dass nichts wirklich stirbt. Es verändert sich nur. Das ist die Natur des gesamten bekannten Universums! Sie gehen sogar so weit zu sagen, dass die Atome – Sie wissen vermutlich, worauf ich hinauswill –, die drei Minuten nach dem Urknall existierten, der Materie des Universums heute entsprechen. Ich weiß nicht, wie man das beweist, aber in der Begräbnisliturgie drücken wir aus, dass das Leben nicht geendet hat, sondern sich lediglich verändert. Das ist es!
Wir aber haben aus der Auferstehung ein einzigartiges, anomales Wunder im Leben Jesu gemacht, statt in ihr das universelle Muster der Schöpfung zu erkennen. Statt zu erkennen, dass alle Kreuzigungen sich auf die Auferstehung hinbewegen, dass alles, was wir Tod nennen, nur ein Stadium ist. Auf die eine oder andere Weise haben das fast alle Weltreligionen intuitiv erfasst. Es ist also keine einmalige, beispiellose Idee. Wir haben jedoch dem Volk der Christenheit keinen Dienst erwiesen, indem wir das nur auf Jesus angewendet haben.
Jesus ist von den Toten auferstanden, und wir sollen uns jetzt alle wahnsinnig freuen, dass Jesus von den Toten auferstanden ist? Aber außer wenn das bedeutet, dass auch wir von den Toten auferstehen werden, wenn man diese Formulierung verwenden will, ist das keine aufregende Lehre für uns. Wirklich nicht! Okay, Jesus, du hast gewonnen, aber … Menschen sind nicht interessiert an Dingen an denen sie nicht beteiligt sind. Das ist vielleicht ein wenig narzisstisch, aber es ist verständlich.
Sie haben deutsche Vorfahren. Die Familie Rohr kommt aus Busendorf bei Bamberg, die Familie Ihrer Mutter aus der Gegend um Passau oder Würzburg: Wolga-Deutsche, die von Zarin Katharina nach Russland gerufen worden waren. Ihre Großeltern sind dann in die USA ausgewandert. Sie selbst sind mitten im Zweiten Weltkrieg geboren. Was bedeutet Ihnen Ihr deutsches Erbe?
Rohr: Es ist wundervoll, wenn man sieht, wie Deutschland heute in aller Welt bewundert wird. Vor allem dafür, wie Sie die Flüchtlinge aufgenommen und empfangen haben. Das hat der ganzen Welt gewaltigen Respekt eingeflößt. Ich weiß – nicht alle Deutschen waren damit einverstanden, aber dennoch … Oder da wäre die Qualität deutscher Produkte und das hohe Niveau ihrer Verarbeitung!
Also: Es ist leicht, stolz zu sein auf Deutschland und das Deutschsein. Wie Sie all diese Städte innerhalb meiner Lebenszeit wiederaufgebaut haben von totalen Bombenruinen, das ist einfach überwältigend. Ich hätte das nicht erwartet. Ich bin ja 1943 geboren, mitten im Krieg. Meine Eltern haben mit mir kein Deutsch gesprochen. Sie wollten nicht, dass ich einen Akzent bekäme so wie sie, weil sie sich dafür schämten. Sie sprachen seltsam, man machte sich über sie lustig. Aber das ist jeder Einwanderergruppe in Amerika widerfahren. Sie alle begannen sich zu schämen für das, was wir "das alte Land" nennen.
Erinnern Sie sich an Ihren ersten Besuch im "alten Land"?
Rohr: Als ich das erste Mal kam, hatte ich die Erwartung, dass mir Deutschland nicht gefallen würde. Ganz wesentlich dank Andreas Ebert habe ich das Land dann kennengelernt – von Hamburg bis München und überall dazwischen. In den letzten 25 Jahren habe ich so viele Ecken von Deutschland gesehen. Schön! Wirklich schön. Eine erstaunliche Kultur.
Und wissen Sie, was ich denen entgegne, die sagen: "Na gut, aber sie haben auch zwei Weltkriege angefangen"? Ich zitiere dann den Psychoanalytiker C. G. Jung, der sinngemäß sagt, je größer das Licht ist, das von einem ausgeht, desto größer ist auch der Schatten, den er wirft. Ich glaube, dass die germanische Kultur eine außergewöhnlich hochstehende Kultur ist. Ja, wirklich. Sie dürfen das nicht sagen, ich weiß. Aber Sie haben auch deswegen einen großen Schatten geworfen – und es ist nur fair, wenn man das sagt –, weil Sie zur Größe fähig sind. Das hat zwei Seiten.
Ich sage übrigens dasselbe über die Japaner, wenn ich dort bin. Es ist wirklich von großer Ironie, dass die beiden Länder, die wir im Zweiten Weltkrieg besiegt haben, meiner Meinung nach sehr, sehr hochstehende Kulturen sind. Ich weiß, man soll nicht vergleichen, aber weil ich von außen darauf blicke, kann ich vergleichen.
Zum Schluss: Im Sonntagsblatt läuft gerade eine Mystiker-Serie, 52 Folgen über ein Jahr, angefangen bei Jesus von Nazareth; natürlich fehlt auch Franz von Assisi nicht. Raten Sie mal, welcher zeitgenössische Mystiker aus der franziskanischen Tradition die Reihe abschließen wird? Sein Name ist Richard Rohr.
Rohr: Wirklich?! Wow. Also, ich weiß ja nicht, was die Definition eines Mystikers ist. Aber wenn darin eine Erkenntnis, ein Begreifen oder eine Erschauung steckt, dann ist das sicherlich ein Geschenk. Es ist nicht die Gabe meiner natürlichen Intelligenz oder meiner natürlichen Heiligkeit oder dergleichen. Es kam von anderswo. Also: danke. Vielen Dank.