Die Welt ist im Aufruhr, konstatiert die Stimme aus dem Off. Es ist die ruhig-suggestive Stimme von Wim Wenders. "Katastrophen ziehen über uns hin", sagt sie. Aus dem Himmel fährt dazu die Kamera über eine Landschaft im Nebel. "Wie sollen wir leben, heute, in Frieden, miteinander und in Eintracht mit unserer Erde?" Die Wolken reißen auf und geben den Blick frei: auf Assisi und die Basilika, in der ein Franziskus begraben ist, der vor 800 Jahren starb und dessen Leben in der Christenheit bis heute weiterwirkt.
Mit seinem Leben reagierte Franz von Assisi einst auf eine Stimme, die er beim Gebet zu ganz ähnlichen Fragen hörte:
"Geh und erneuere mein Haus, es ist am Verfallen."
"Was könnte das heute bedeuten?", fragt Wenders. "Wie Christus leben, Beispiel geben für eine neue Brüderlichkeit unter den Menschen – und ist es nicht genau das, was heute gebraucht würde?"
Damit ist der Film bei jenem Papst, der sich als erster nach jenem Radikalen der Gottes- und der Menschenliebe aus Umbrien nannte: Jorge Mario Bergoglio – Papst Franziskus.
Wim Wenders ist einer der weltweit bekanntesten deutschen Filmemacher. Spielfilme wie "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" (1972), "Paris, Texas" (1984), "Der Himmel über Berlin" (1987), "The Million Dollar Hotel" (2000) oder "Palermo Shooting" (2008), dazu meisterhafte Dokumentationen wie "Buena Vista Social Club" (1999), "Pina" (2011) oder "Das Salz der Erde" (2014) stehen auf der langen Liste seiner Werke. Sie haben ihm Preise wie den "Goldenen Löwen" der Filmfestspiele von Venedig oder "Goldene Palmen" in Cannes eingetragen.
Wie kommt einer wie Wenders dazu, "ausgerechnet" einen Papstfilm zu machen?
Wim Wenders hat sich immer als "Reisender" verstanden und sich weniger gern auf eine alleinige Existenz als Regisseur festlegen lassen. Seine Filme spiegeln einen neugierigen und "globalen" Blick. Auch durch seine Biografie zieht sich so etwas wie eine weltanschauliche Reise.
1945 als Wilhelm Ernst Wenders in eine konservative katholische Familie geboren, wollte er als Jugendlicher Priester werden. Aber "dann kam das Kino, Rock ’n’ Roll, ’68 der Sozialismus, und Gott weiß was alles dazwischen", zum Beispiel Psychoanalyse, Existenzialismus, Buddhismus, "alles, was man so macht", wie Wenders sagt. In einem großen Bogen sei er zurückgekehrt zum christlichen Glauben:
"Heute bin ich Protestant. Das lag mir mehr, weil es da nicht so viele Hierarchien gab."
Auch seine Frau, die Fotografin Donata Wenders, ist bekennende Christin.
Seit März 2013, seit ziemlich genau fünf Jahren, ist der Argentinier Jorge Bergoglio Papst. Wenders war elektrisiert, als er dessen ersten Auftritt am Balkon des Petersdoms verfolgte: "Dass der neue Papst sich den Namen Franziskus gegeben hatte – da bin ich vor dem Fernseher aufgestanden und habe gesagt: Das gibt’s nicht! Dass sich das einer traut!"
Schon Ende 2013 kam ein Anruf aus dem Vatikan: Dario Viganò, PR-Stratege des Papsts, lud den deutschen Regisseur nach Rom ein.
Viganò ist nicht nur katholischer Theologe, sondern auch Kino-Experte und bekennender Wenders-Fan. Der Kommunikationswissenschaftler und Direktor des Vatikanischen Fernsehzentrums CTV hat Dutzende Schriften übers Kino verfasst. Mehrfach hat er über "Priester im Kino" geschrieben. Er schlug Wenders die Franziskus-Doku vor. Das Geld dafür sammelte er bei kirchennahen Gebern ein. Inhaltliche Vorgaben des Vatikans habe es aber keine gegeben, sagt Wenders.
2015 ließ Viganò den Deutschen schon einmal ran: Bei der Direktübertragung der Eröffnungsfeierlichkeiten zum "Heiligen Jahr der Barmherzigkeit" erfuhr der verblüffte BR-Zuschauer, dass bei den vom Vatikanischen Fernsehen an die Fernsehstationen übermittelten Bildern "niemand Geringerer als Wim Wenders Regie führt".
Nummernrevue mit Wenders-Flow
Bevor Wenders zu seinen insgesamt vier Interviews nach Rom kam, hatte Papst Franziskus noch keinen einzigen Film von Wenders gesehen. Bei der ersten Begegnung habe er sich erst einmal dafür entschuldigt, so Wenders.
Mit nur rund 1,5 Millionen Produktionskosten entspricht der Film der päpstlichen Forderung nach einer "armen Kirche für die Armen". Eine Tatort-Folge kostet im Schnitt genauso viel.
Selbst gedreht hat Wenders nur wenig mehr als seine Interviews. Die Bilder von den Papstreisen stammen aus dem großen Fundus des Vatikans. Klassische Interviewsituationen, in denen Wenders als Interviewer zu sehen wäre, zeigt der Film nicht. Franziskus blickt direkt in die Kamera, spricht unmittelbar zu den Zuschauern. Dadurch entsteht eine Atmosphäre irgendwo zwischen persönlicher Begegnung und Predigt.
Ein wenig wirkt Wenders’ Film zwar wie eine Nummernrevue: Armut, Nord-Süd-Gerechtigkeit, Müll, Klima, Flächenverbrauch, Plastik im Meer, Tierhaltung, Jugendarbeitslosigkeit, Genderthemen, Familie, Frieden, Juden, Muslime, interreligiöse Weltverantwortung ... – alles dabei, alles abgehakt. Aber der Film hat dennoch einen wunderbaren Wenders-Flow, was nicht zuletzt an dessen warmer Stimme liegt. Und dieser Papst, der ist einfach so herzig, dass man selbst als hartleibiger Protestant in Versuchung gerät, geradewegs katholisch werden zu wollen.
"Hefe der Brüderlichkeit sein" wollte Jorge Mario Bergoglio schon als Bischof von Buenos Aires. Der sperrige Untertitel "Ein Mann seines Wortes" ergibt auf Englisch mehr Sinn: "A man of his word" ist sprichwörtlich ein Mann, der Wort hält, ein Mensch, der tut, was er sagt. Und zugleich klingt das "Wort" Gottes mit.
Ein Papst im "Mister-Bean-Auto"
Denn Glaubwürdigkeit entsteht aus Taten, und dieser Papst wäscht nicht nur Häftlingen im Gefängnis die Füße. Franziskus lebt Demut und Bescheidenheit vor. Er fährt mit dem Bus und wohnt in einem eher kargen Wohnheim im Vatikan. Wenders zeigt, wie er beim Staatsbesuch in den USA 2015 aus in einem klitzekleinen Fiat Cinquecento winkt, begleitet von amerikanischen Monsterlimousinen als Eskorte. Einem US-Kommentator verschlägt es fast die Sprache angesichts des päpstlichen "Mister-Bean-Autos". Ja, es ginge auch eine Nummer kleiner, eine Nummer bescheidener – und jeder von uns könnte das auch tun, so die Botschaft.
Hartgesottene Republikaner rührt Franziskus bei seiner Rede im Kongress mit seinem Appell zur Menschlichkeit zu Tränen. Er kritisiert Todesstrafe und Waffenhandel. Doch Amerikaner hätten ein besonderes Verhältnis zu Fremden, sagt der Argentinier. Die meisten Amerikaner oder ihre Vorfahren seien einst selbst Fremde gewesen, Migranten. Die Eltern von Jorge Mario Bergoglio stammen beide aus dem Piemont, der Vater wanderte erst in der Zeit des italienischen Faschismus nach Argentinien aus.
Die Giotto-Fresken in der Basilika von Assisi mit ihren Szenen aus dem Leben des Franziskus prägen unser Bild des Heiligen. Wenders greift sie auf und verwandelt sie für seinen Film in bewegte Schwarz-Weiß-Bilder. In ihrer merkwürdig-strengen Ästhetik erinnern sie an Bibelfilme der 1950er-Jahre – aber auch an Pier Paolo Pasolini. Gedreht hat Wenders sie mit einer alten Handkurbel-Kamera. Von Franziskus zu Franziskus soll anschaulich werden, dass hier kein Politiker über globale Probleme spricht, sondern dass der Christ Jorge Bergoglio, dass der Christenmensch Papst Franziskus sich in eine Überlieferungskette radikaler Gottes- und Wahrheitssuche stellt.
Moderne Kino-Predigt
Großen Raum nimmt im Film die päpstliche Umweltenzyklika "Laudato si" aus dem Jahr 2015 ein. Umweltzerstörung und "exclusión" gehen, so Franziskus, Hand in Hand: Die Armen tragen zusätzlich noch die Lasten unserer Wegwerfkultur. "Es ist eine Schande für uns, und alle sind wir verantwortlich!", empört sich der Argentinier.
Der Versklavung durch das Geld setzt Franziskus drei "Ts" entgegen: trabajo (Arbeit), tierra (Land), techo (Dach oder Obdach). Doch unsere heutige Wirtschaftsweise töte, so der Papst. Sie zerstöre. Und sie schände die "Schwester Mutter Erde", wie Franz von Assisi sie in seinem "Sonnengesang" nannte.
Erst wenige Tage alt ist das vatikanische Dokument "Oeconomicae et pecuniariae quaestiones". Auch dieses wirtschaftsethische Schreiben trägt die Handschrift Franziskus’. Es ist eine Abrechnung mit der heutigen Finanzwirtschaft und ihren Auswüchsen:
"Das Geld muss dienen und nicht regieren!"
heißt es darin. Es fordert eine globale Neuordnung des Finanzsystems, in dem nicht mehr "das Recht des Stärkeren" gelten soll. Basis jeder Ökonomie müsse vielmehr die Würde des Menschen und die ganzheitliche Entwicklung der Menschheit sein.
Der Film zeigt Franziskus als einen, der einfach das Papamobil anhalten lässt und aussteigt, als er in der jubelnden Menge am Straßenrand Schwester Maruca aus seiner früheren Gemeinde entdeckt. Vertraut unterhält er sich mit ihr. Er ist einer, der auch mal persönlich bei einem sterbenden Kind anruft.
Franziskus streut simple biblische Weisheiten ein, wie die für Paare (und eigentlich alle Beziehungen), dass man den Tag nicht zu Ende gehen lassen soll, ohne Frieden gemacht zu haben (Epheser 4, 26). Oder die an alle Eltern gerichtete eindringliche Frage:
"Spielen Sie mit Ihren Kindern? Spielen Sie mit Ihren Kindern?"
Am Ende mag man sich fragen: War da irgendwas Neues dabei? Aber vielleicht ist gerade das die Pointe: Wir wissen schon alles. Es gibt nichts Neues, das uns retten könnte. Ressourcenverbrauch, Gerechtigkeit, Müll, Klima, Frieden: Weder gibt es grundsätzlich Neues in der Beschreibung der Probleme der Welt, noch darin, was dabei helfen könnte, diese Probleme zu lösen. Wir müssen nur endlich aufhören, uns nicht zuständig zu fühlen und nichts zu tun.
Traum vom franziskanischen Wind
Den Traum von dem "franziskanischen Wind, der über die Erde fegen möge", den der Papst träumt und Wim Wenders offenkundig auch, der ist tatsächlich träumenswert. Was, wenn sich das revolutionäre Potenzial, das in unserer Zeit und in unseren globalisierten Verhältnissen steckt, nicht in Krieg und Gewalt entlädt, sondern in radikaler Liebespraxis, in einem spirituellen Sturm der Achtsamkeit und humanen Verbundenheit? Ganz ohne historische Vorbilder – siehe Franziskus, aber der aus Assisi – wäre das nicht.
Papst Franziskus ruft die Jugend der Welt auf, gegen die Krankheit der Zeit zu rebellieren und zur Heilung der Welt beizutragen. Und zwar indem sie das wohl Radikalste tut, was man zu allen Zeiten tun konnte: Auszusteigen und dem Jesus-, dem Franziskusweg nachzugehen. Auch wenn es nur in kleinen Schritten ist.
Christsein ist eben etwas anderes und viel mehr als ein Bekenntnis – und dieser so "unkatholische" Papst macht die globale, universale, also eben doch wieder "katholische" Bedeutung der Jesus-Nachfolge zum Thema.
Was sich der Papst unter dem "franziskanischen Wind" vorstellt, kann man auch in seinem Anfang April 2018 erschienenen apostolischen Lehrschreiben "Gaudete et exsultate" nachlesen. "Seid fröhlich und jubelt" lautet der optimistisch klingende Titel. Er steht im Matthäusevangelium (5, 12) am Ende der Seligpreisungen, wo es um den Preis der Nachfolge geht, "wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen".
Kirche leidet an "spirituellem Alzheimer"
Sein Schreiben hat Franziskus als "Ruf zur Heiligkeit" formuliert. "Heiligkeit" – das dürfte für die meisten säkularen Ohren fremd und abschreckend klingen. Dennoch steckt Zündstoff darin.
Besonders am Herzen liegt ihm die "Heiligkeit ›von nebenan‹" oder die "Mittelschicht der Heiligkeit", wie Franziskus formuliert. Nicht Glaubenssätze, Dogmen und Regeln sind aus seiner Sicht für das Christsein entscheidend, sondern eine Lebenshaltung, in der die Liebe des Einzelnen gegenüber Gott, sich selbst und seinem Nächsten praktisch und aktiv wird. Die Kirche brauche "nicht viele Bürokraten und Funktionäre", sondern leidenschaftliche Missionare dieser Liebe und des "wahren Lebens".
Zwei "subtile Versuchungen der Heiligkeit" (und der Kirche) sieht der Papst: in gnostischen Tendenzen, die vor lauter Theologisieren und Theoretisieren die Fleischwerdung Christi nicht mehr ernst nehmen und die konkrete, tätige Nächstenliebe als etwas Zweitrangiges ansehen. Nächstenliebe muss aber bereit sein, sich gewissermaßen die Hände schmutzig zu machen.
Auch neue Formen eines "Pelagianismus" kritisiert der Papst: eine elitäre Haltung, deren Vertreter sich anderen überlegen fühlen, "weil sie bestimmte Normen einhalten oder weil sie einem gewissen katholischen Stil der Vergangenheit unerschütterlich treu sind".
Eindrucksvoll ist, wie Franziskus in einer Predigt im Vatikan den versammelten Kurienkardinälen, seinem engsten Apparat, dem eigentlichen Machtzentrum der Kirche, die Leviten liest. Er vergleicht die Kirche (gemeint ist aber ihre Leitung) mit einem Körper, der danach strebe, sich zu erhalten, dabei aber auch an Krankheiten leide: an Schizophrenie, Umbarmherzigkeit, dem Krebs, mit Geld und Strukturen sich Sicherheit verschaffen zu wollen, und vor allem: "spirituellem Alzheimer".
Kirche muss mehr sein als eine NGO
Diese päpstliche Diagnose und seine Predigt überhaupt – das wird auch an dieser Stelle sichtbar – reichen deutlich über die katholische Kirche hinaus.
Seine (katholischen) Kritiker werfen Franziskus vor, er passe die Lehre an den Zeitgeist an. Franziskus beharrt dagegen geradewegs auf dem Gegenteil: "Die Worte Jesu", schreibt er in "Gaudete et exsultate", "mögen uns poetisch erscheinen; sie richten sich jedoch deutlich gegen den Strom der Gewohnheit, gegen das, was man in der Gesellschaft so tut. Und wenn uns diese Botschaft Jesu auch anzieht, treibt uns die Welt im Grunde zu einem anderen Lebensstil."
In einer Kirche, die ihre Hoffnung auf den Reichtum setze und ihre zukünftige Sicherheit in den Finanzen suche, "in der ist Jesus nicht zu Hause", sagt Franziskus im Wenders-Film. "Sie ist dann vielleicht eine NGO (Nichtregierungsorganisation), aber nicht die Kirche Jesu Christi."
Radikale Nachfolge ist das glatte Gegenteil einer Anpassung an den Zeitgeist. Das war bei Franziskus von Assisi so. Und das ist es, was auch diesem Papst vorschwebt.
Wie konkret, wie praktisch und lebensnah dieser Papst tickt, wie "fromm" und zugleich "politisch" er ist, das wird in der Wenders-Doku anschaulich.
Könnte durchaus sein, dass nach diesem Film auch der eine oder andere Protestant sagt: Dieser Papst ist auch mein Papst.
Ab 14. Juni: "Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes". Regie: Wim Wenders. 96 Minuten, FSK: ab 0 Jahren.