Spielen boomt - seien es Brett-, Gruppen- oder Computerspiele. Nicht nur Kinder und Jugendliche, auch Erwachsene spielen, was das Zeug hält. Warum eigentlich? Und gibt es gute und schlechte Spiele? Zum Weltspieltag am 11. Juni 2025 erklärt Uli Geißler aus Fürth, warum sich spielen lohnt. Der evangelische Diakon, Spiel- und Kulturpädagoge war bis 2015 landeskirchlicher Referent für Kinder- und Jugendkulturarbeit. Zudem ist er Autor mehrerer Bücher und Spiele. Seit 2020 ist Geißler im Ruhestand, spielt mit seinen Enkeln - und beendet seine Mails mit "Spiele Grüße".
Herr Geißler, warum spielt der Mensch?
Uli Geißler: Der Spieltrieb ist in seinem Wesen angelegt. Tiere spielen auch: Es gibt Aufnahmen von Krähen, die auf einem schneebedeckten Dach abrutschen - und dann wieder hinauffliegen, um nochmal und nochmal zu rutschen. Die Wiederholung zeigt, dass es ein Spiel ist. Das Spiel ist die erste Form der Weltaneignung. Hier droht keine Gefahr, dass eine Handlung schlimme Konsequenzen hat.
"Das Prinzip ist immer, etwas auszuprobieren"
Was Babys so alles mit einem Gegenstand anstellen können ...
Sie schütteln Sachen, drehen sie, lutschen daran. So entsteht Erfahrungslernen. Wenn ein Kind einen Löffel auf den Boden wirft und die Eltern ihn jedes Mal aufheben, erkennt es die Regel und erprobt sie. Auch im realen Leben gibt es Spielformen, das erforscht die Spieltheorie. Das Prinzip ist immer, etwas auszuprobieren, mit den Ergebnissen umzugehen und ein Handeln daraus abzuleiten.
Wie entwickelt man ein Spiel? Zwei Menschen, ein Ball - das läuft automatisch.
Spielentwicklung folgt bestimmten kreativen Techniken. Zwei Leute schießen oder werfen den Ball, das ist die Regel. Ersetzen wir ihn durch einen Karton oder einen Holzklotz, dann funktioniert das plötzlich ganz anders. Es entwickelt sich eine neue Idee und Regel. Beim Militär gibt es Planspiele, die auf die Realität bezogen sind.
Aber eigentlich sind Spiele zweckfrei und freiwillig, oder?
Ja, das ist das Grundwesen des Spiels. Und trotzdem können Spiele einen Sinn erfüllen oder ein Ziel verfolgen - positiv wie negativ. Während der NS-Zeit gab es ein Spiel, bei dem stand ein jüdisches Kind auf einer Kiste, und die anderen mussten es mit Medizinbällen herunterwerfen. Vordergründig ging es um Kraft, Reaktion und Geschicklichkeit, aber der hintersinnige perfide Zweck war klar. Man muss Motiv und Ergebnis genau anschauen: Will ich ein Ziel erreichen oder mich nur beschäftigen? Eine Frisbee zu werfen macht einfach Spaß. Dagegen ist beim Werfen eines Ninja-Sterns das Ziel, den anderen zu verletzen.
Macht "Monopoly" geldgierig?
Mit "Monopoly" lernt man Kapitalismus. Am Anfang sind alle gut drauf, doch der Zufall führt dazu, dass das Spiel irgendwann kippt und der Besitzer der Schlossstraße alle anderen abzockt. "Mensch ärgere dich nicht" oder Schach: Bei diesen alten Spielen geht es letztlich um kriegerische Auseinandersetzungen, bei denen man den anderen vernichten soll. Hier greift stark der Unterschied zwischen kompetitiven und kooperativen Spielen.
"Ein Kind muss lernen, mit Niederlagen zurechtzukommen"
Kompetitiv bedeutet Wettkampf: Muss ein Kind verlieren lernen?
Das sagen Eltern oft, aber ich halte den Satz für falsch. Ein Kind muss lernen, mit Niederlagen zurechtzukommen und mit seinen Emotionen umzugehen. Es lernt, dass es nicht immer gewinnen kann, gerade bei Glücksspielen wie dem Kartenspiel "Schokohexe" oder vielen Würfelspielen. Aber erst mal will jeder gewinnen, das ist gesunder Ehrgeiz.
Sind kooperative Spiele besser?
Spiele, bei denen man gemeinsam etwas erreichen muss, sind im Trend und haben letztlich eine höhere Anforderung an die Spielenden. Früher gab es sehr viele kompetitive Spiele. Die Wege zum Ziel wurden immer komplexer, teilweise sind ganze Geschichten ineinander verwoben. "Die Siedler von Catan" war dabei eine Art Zeitenwende.
Was haben Spiele wie "Catan" mit der Realität zu tun?
Beim Spielen werden Bewältigungsstrategien erprobt, wie man mit der Welt zurechtkommen kann. Weit vor Corona gab es das Spiel "Pandemie", bei dem man diesen Fall durchspielt. Bestimmte Dinge werden dann rückübertragen auf die Realität. Beim Spiel "Ökolopoly" von Frederic Vester aus den 1980ern wurden Einflüsse auf die Umwelt simuliert. Gespielt wurde es oft in Jugendgruppen oder Schulklassen.
Was halten Sie von Lernspielen, die gezielt Wissen vermitteln wollen?
Ich war immer dagegen, weil man in allen Spielen etwas lernt. Aber vielleicht ist das Label doch nützlich, und die Verlage haben einen hohen Anspruch. Mein Spiel "Fantomimo", ein Darstellungsspiel, hat der Verlag auch als Lernspiel deklariert, obwohl ich das gar nicht vorgesehen hatte. Das Kinderrechte-Spiel "Kleine Haie" von mir und Elke Kaika wurde gar zum Deutschen Lernspielpreis nominiert.
"Manche Spiele fördern die Vereinsamung und haben schlimme Ziele"
Was verändert sich durch Videogames – gibt es gute und schlechte?
Handy-Apps, Onlinespiele oder Konsolen – es ist irre, was da grafisch inzwischen möglich ist, teils auch mit KI. Allerdings las ich neulich, dass sich laut einer Studie fast 50 Prozent der jungen Leute in Deutschland einsam fühlen. Manche Spiele fördern die Vereinsamung und haben schlimme Ziele. Etwa "Fortnite" ist eine Mordsschießerei. Der Erfolg mag dem Spieler ein gutes Gefühl geben, aber die Tätigkeit finde ich schlimm.
Das Spielerische rechtfertigt nicht die grausame Szenerie?
Die Gewöhnung an einen solchen Umgang mit Konflikten finde ich furchtbar. Die Grafik sieht aus wie Fernsehbilder vom Krieg. Sowas dürfte nicht programmiert werden - was ist das für eine Vorstellung vom Menschen? Es gibt auch einige positive Games wie "Minecraft", bei denen man Dörfer aufbaut, Welten entwickelt und für Konflikte machbare Lösungen findet. Spielen bietet die Möglichkeit, Herangehensweisen auszuprobieren - das funktioniert bei digitalen Spielen genauso.
Können Erfahrungen aus digitalen Spielen nicht auch in der Realität gemacht werden?
Ich habe einmal mit Kindern das Spiel "Super Mario" in die Realität übertragen. Ich habe sie gefragt, was sie daran reizt, und das nach Anforderungen wie Überraschung, Zufall oder Geschicklichkeit kategorisiert, etwa wenn die Figur waghalsig einen Fluss überquert. In der Turnhalle haben wir das nachgebaut. Hinterher sagten die Kinder: Das war cooler als im echten Spiel. Sie haben gemerkt, dass sie sich selbstwirksam beteiligen, dass sie ihr Vergnügen selbst erzeugen können.
"Spielen ist Lebensaneignung und Wertvermittlung"
Manche halten Spielen für Zeitverschwendung oder gar Weltflucht.
Dann wären alle anderen Beschäftigungen, etwa Joggen, Meditation oder Musikhören, auch Weltflucht. Wir suchen alle nach Ausgleichsformaten, um das Leben zu bewältigen. Spielen ist Lebensaneignung und Wertvermittlung.
Gerade sind Escape Games in Mode, bei denen man als Gruppe in einem Raum eingesperrt wird und Rätsel lösen muss, um herauszukommen. Warum veranstalten Firmen sowas?
Escape Games sind uralte Formate, wie Geländespiele im Wald. Die meisten Teambuilding-Angebote kommen aus der Spielpädagogik. Firmenevents bieten ein Abtauchen in eine andere Welt, aber auch ein Erproben eines anderen Verhaltens.
Was halten Sie von Gamification? Dabei werden Spielelemente in ernste Umgebungen integriert, etwa bei einer Sprachlern-App oder im Kunstmuseum.
Oder bei Stadterkundungs-Rallyes. Sie alle folgen dem Prinzip: Was mich umgibt, eigne ich mir auf lockere Weise an. Da gibt es tolle Sachen! Das spielpädagogische Denken hat als Bewegung in den 1970er-Jahren begonnen. Es war auch eine Art Selbstermächtigung und Freiheitsbewegung.
Und was zeichnet den Spielverderber aus?
Spielverderber gibt es an sich nicht. Vielmehr ist das jemand, der aus irgendeinem Grund mit der Spielsituation oder -anforderung nicht zurechtkommt. Statt ihn zu beschimpfen, gilt es, ihn ernstzunehmen und herauszufinden, welche Hemmnisse für ihn zu überwinden wären.
Wieviel sollten Kinder spielen können?
Kinder brauchen ungeregelte Zeit ohne strukturelle Vorgaben. Auch Langeweile muss mal sein, um Freiheit zu erfahren. Kinder brauchen keine Spielplätze mit genormten Geräten, sondern Platz zum Spielen. Was hilft, ist, einen Nachmittag als gemeinsame Spielzeit einzurichten. Es gibt viele kleine Alltagsspiele, ich habe dazu einige hilfreiche Bücher geschrieben.
"Das Spiel ist eine Erfindung Gottes"
Bietet die Kirche viel Freiraum für das Thema Spielen?
Die Kirche, mit ihrer Sicht auf den Menschen und seine Bedarfe, ist dafür ein begünstigender Raum. Das Spiel ist eine Erfindung Gottes, Bestandteil menschlichen Lebens. Die Schöpferkraft beinhaltet ein spielerisches Moment. Spielen wirkt ganzheitlich und ist das Echteste, was man erleben kann, weil man wirkliche Empfindungen hat.
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