Am 2. Januar 1992 schrieben die Deutschen nochmal Geschichte. Am Morgen öffnete eine neu geschaffene Behörde ihre Türen, um den Menschen Einblick in die Akten eines Geheimdienstes zu geben. Vor allem jede und jeder Ostdeutsche sollte erfahren, wie ihn die abgewickelte DDR-Stasi überwacht und bespitzelt hatte, welche Freunde und Verwandten zu Verrätern geworden waren. Zudem sollten Politikerinnen und Politiker sowie Angehörige des öffentlichen Dienstes künftig auf eine mögliche Stasi-Mitarbeit überprüft werden.

Dieser bis dahin weltweit einmalige Vorgang sollte nach 40 Jahren SED-Diktatur etwas Gerechtigkeit schaffen, hofften die Einen. Die Anderen fürchteten Racheakte, Mord und Totschlag.

Die Sammelwut des DDR-Staatssicherheitsdienstes war legendär. Mehr als 111 Kilometer Aktenmaterial hatten die 91.000 hauptamtlichen Mitarbeiter seit Gründung der Stasi 1950 angehäuft. Dazu kamen mehr als 1,7 Millionen Fotos sowie Karteikarten, Filme, Tondokumente und Mikrofiches. Weitere 110.000 bis 189.000 inoffizielle Mitarbeiter (IM) hatten sich an der möglichst lückenlosen Überwachung der 16 Millionen DDR-Bürgerinnen und -Bürger beteiligt.

Stasi-Unterlagen-Gesetz

Zu den ersten, die am 2. Januar ihre Stasi-Akten einsehen konnten, gehörte Ulrike Poppe. Die Bürgerrechtlerin war Mitgründerin der oppositionellen "Initiative Frieden und Menschenrechte". "Natürlich war ich davon ausgegangen, dass uns die Stasi bespitzelt hat", erinnerte sich die spätere Brandenburger Diktaturbeauftragte an diesen Tag: "Ich war dann aber doch überrascht, ein Konvolut von etwa 40 Leitz-Ordnern vorzufinden."

Die Akten enthielten "viel langweiliges Zeug" wie "abgehörte Telefongespräche, ellenlange Observationsberichte", berichtete Poppe in einem Interview : "Sehr interessant waren dagegen die Spitzelberichte und die geplanten Zersetzungsmaßnahmen."

Wie weit die Arme der Krake Stasi in das Privatleben hineinreichten, musste auch Bernd Stracke schmerzlich erfahren. Stracke war Punk der ersten Stunde in Leipzig und Mitglied der legendären DDR-Punkband "Wutanfall". Vier IM hatte die Stasi in seinem engsten Umfeld platziert, wie er bei Akteneinsicht feststellte: "Mit dem einen war ich am Vorabend noch im Kino."

Grundlage dieser neuen Transparenz war das Stasi-Unterlagen-Gesetz, das der Bundestag im November 1991 beschlossen hatte und das im gleichen Jahr am 29. Dezember in Kraft trat. Bis es dazu kam, wurde im frisch vereinigten Deutschland allerdings hart und zäh gerungen.

Der Umgang mit der vergifteten Hinterlassenschaft des DDR-Geheimdienstes wurde zum ersten Lackmustest zwischen Ost und West. Auf der einen Seite stand das Unbehagen, illegal gesammelte Informationen öffentlich zu machen, auf der anderen Seite der Wunsch nach einer umfassenden Aufarbeitung des Stasi-Erbes. Die letzte frei gewählte Volkskammer hatte bereits im August 1990 ein Gesetz verabschiedet, das einen weitgehend freien Zugang zu den Akten vorsah. Es sollte nach Wunsch des DDR-Parlaments als positive Mitgift in den Einigungsvertrag eingebracht werden.

In Bonn fremdelte man mit dieser Idee. "Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) wollte einen Deckel draufmachen", erinnert sich der erste Behördenchef und spätere Bundespräsident Joachim Gauck 30 Jahre später.

Widerstand gegen die Stasi-Akten

Aber auch im Osten gab es Widerstände. Der Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemmer wollte alle Stasi-Akten einem "Freudenfeuer" anvertrauen. Der Liedermacher Wolf Biermann bügelte Schorlemmer ab: "Ich kann es nicht fassen, dass eine solche Kohlsche Blähung aus deinem Munde kommt."

"Man wusste halt nicht, was drin steht", sagt der Berliner Jurist und Historiker Johannes Weberling. Er vermutet, dass es unter einigen westdeutschen Politikern einen ganz lapidaren Grund gab, warum sie gegen die Öffnung waren: Es könnten so ihre möglichen Ausschweifungen bei vergangenen Ost-Berlin-Besuchen ruchbar werden.

"Diese kleinbürgerlichen Ängste sollten nicht verhindern, dass wir ein großes Aufklärungswerk in Gang setzen", erinnert sich Joachim Gauck. Gegen ein "Deckel-drauf" oder eine Vernichtung der Unterlagen sprachen aus Sicht der meisten DDR-Bürgerrechtler vor allem die Belange der Opfer. Es ging um "ein Stück geklautes Privatleben, gestohlen durch Stasi-Bespitzelungen", wie Ingrid Köppe sagte, einstige "Neues Forum"-Aktivistin und spätere Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen.

Nachdem Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen medienwirksam die frühere Stasi-Zentrale in der Ost-Berliner Normannenstraße besetzt hatten, wurde schließlich wenige Wochen vor der Wiedervereinigung eine Zusatzerklärung über den Zugang zu den Stasi-Akten zum Einigungsvertrag angenommen. Ein Jahr später kam es dann zum fraktionsübergreifenden Bundestagsbeschluss.

Seit Juni dieses Jahres ist die Behörde nun Teil des Bundesarchivs. Der offene Zugang ist geblieben. Bis Mitte 2021 waren mehr als 7, 3 Millionen Ersuchen in der Behörde eingegangen, darunter 3,3 Millionen Anträge von Bürgerinnen und Bürgern. Hier geht es zur Archivseite.