Als am 18. März 1946 die ersten 91 Internatsschüler nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in das wiedereröffnete Pfarrwaisenhaus im mittelfränkischen Örtchen Windsbach einzogen, ahnte noch niemand, was in den nächsten Jahren dort geschehen würde.

Wie aus dem Nichts formte der junge Hans Thamm, der von Dekan Heinrich Bohrer als Musiklehrer geholt worden war, in kürzester Zeit ein Ensemble, das zu Weltruhm gelangte. Heuer feiert der Windsbacher Knabenchor sein 75-jähriges Bestehen.

Chorleiter Martin Lehmann: Der Klang hat mich von den Socken gehauen

Der heutige Chorleiter Martin Lehmann, erst der dritte seit der Gründung der Windsbacher, stammt aus Dresden, war im dortigen Kreuzchor selbst Sänger. Er erinnert sich an seine erste Begegnung mit den Windsbachern: "1985 war Heinrich-Schütz-Jahr."

Der Knabenchor trat damals unter der Leitung von Karl-Friedrich Beringer in der Kreuzkirche auf: "Ich war zwölf Jahre alt. Natürlich wussten wir, dass die Windsbacher gut sind. Aber der Klang damals, der hat mich von den Socken gehauen."

Lehmann übernimmt die Chorleitung von Beringer

Als Beringer ihm den Schlüssel zum Chorleiterbüro kurz vor seinem Amtsantritt am1. Februar 2012 in die Hand drückte, habe er ihm Folgendes gesagt, erinnert sich Lehmann:

"Jetzt haben Sie den Ferrari in den Händen."

Das sei gleich in zweierlei Hinsicht richtig, sagt der Chorleiter: Zum einen, weil ihm Beringer den Windsbacher Knabenchor qualitativ auf dem i-Tüpfelchen übergeben habe - und zum anderen, weil die Arbeitsbedingungen in Windsbach einfach ganz besonders gut seien.

Windsbacher Knabenchor: Bei den Kindern dreht sich alles um die Musik

Das liegt daran, dass sich der ganze Windsbacher Mikrokosmos um die Musik dreht: die Kinder, die dort leben, lernen und singen, haben nicht zig andere Hobbys und Verpflichtungen.

Sie konzentrieren sich aufs Singen. Dieses professionelle Umfeld gebe es nur an wenigen Orten, sagt Lehmann, der zuvor mit der Wuppertaler Kurrende zwar einen sehr ambitionierten Laien-Knabenchor geleitet hat. "Aber man muss sich immer arrangieren, das Singen ist ein Steckenpferd von vielen", erinnert er sich.

Team rund um Internatsleiter lässt alles rund laufen

Dass es in Windsbach "so rund" läuft, dass sich Chorleiter und Choristen ganz auf die Musik, aufs gemeinsame Singen konzentrieren können, liegt maßgeblich am Team rund um den Internatsleiter.

Bis Ende August ist das noch Pfarrer Thomas Miederer. Seit Juli 2001 ist er der Mann im Hintergrund, in der zweiten Reihe, im Schatten des Chorleiters. "Wir sind Dienstleister für den Chor", sagt er und fügt hinzu: "Wer sichtbare Karriere machen will, darf nicht Internatsleiter in Windsbach werden."

Miederer wurde zum "Vater der Kompanie"

Gereizt an dieser Arbeit hat Miederer "das direkte Umfeld des Chors". Und das tut es bis heute. Miederer ist nicht einfach nur der Internatsleiter, er lebt für seine Windsbacher.

"Ich wollte niemals 'Vater der Kompanie' werden - und bin es doch geworden", erzählt er: "Und zwar gerne."

Viele Jahre lang hat er als Pfarrer Religionsunterricht am Gymnasium für die fünften und sechsten Klassen gegeben, um die "Neuen" kennenzulernen. Auch Konfirmations-Unterricht hatten sie bei ihm.

Das "Wunder von Windsbach"

Thamm leistete ab März 1946 enorme Aufbauarbeit in der westmittelfränkischen Provinz. Als "Wunder von Windsbach" wurde der fast schon kometenhafte Aufstieg des Knabenchores bezeichnet.

Innerhalb weniger Jahre schloss die Neugründung künstlerisch zu den großen und teils jahrhundertealten Namen der Knabenchorszene auf. Windsbach wurde in einem Atemzug mit dem Dresdner Kreuzchor, dem Leipziger Thomanerchor und den Regensburger Domspatzen genannt.

Von Anfang an sangen die Windsbacher in der engeren Umgebung - und hatten von Anfang an viele Fans. Eines der ersten Konzerte, damals noch als Chor des "Pfarr-Waisenhauses", gaben die Knaben am 8. Dezember 1946 in der Kirche von Wassermungenau. Die etwa sechs Kilometer lange Strecke wanderten die Choristen vor dem Konzert hin und danach auch wieder zurück. Als Entlohnung gab es Essbares vom Acker. In der von Not geprägten Nachkriegszeit war das Gold wert.

Im Jubiläumsjahr erinnern die Windsbacher an das Konzert in Wassermungenau

An dieses Konzert wollen die Windsbacher in ihrem Jubiläumsjahr - das wegen der Corona-Pandemie wohl deutlich anders und kleiner ausfallen wird als geplant - erinnern.

Am 4. Juli singen die Choristen in Wassermungenau. In welcher Besetzung, also ob als kompletter Chor oder als kleineres Ensemble, das entscheidet sich nach den dann geltenden Hygienebestimmungen. Fest steht jedoch: Wenn das Konzert stattfindet, wandert der Chor wie einst nach Wassermungenau und danach wieder zurück.

Diese zwei Seiten des Chores, seine feste regionale Verankerung, und seine Tourneen, die ihn in alle Ecken der Welt führten, sind sicher eine weitere Besonderheit.

Lehmann sagt, Chöre wie seine Windsbacher seien "ein verletzliches, ein gefährdetes, aber unverzichtbares Kulturgut" und "nichts von gestern". Deshalb hoffe er, dass dies auch weiterhin von Gesellschaft und Kirche geschätzt wird. Knabenchöre pflegten "die musikalischen Wurzeln des Protestantismus" und hielten sie dadurch am Leben.

Nach Corona muss der Chor neu aufgebaut werden

Dieses "Am-Leben-Halten" ist derzeit nicht einfach. Corona zwingt den Chor dazu, seinen Probenbetrieb komplett umzuorganisieren. Die Jungs leben teilweise nicht mehr im Internat, das gesamte 130-köpfige Ensemble kann seit über einem Jahr nicht gemeinsam Proben oder Auftreten.

"Was nach Corona ansteht, ist ein Neuaufbau des Chores", betont der scheidende Internatsleiter.

Wieder eine störungsfreie Arbeit am "Windsbacher Klang" zu ermöglichen, werde die große Aufgabe seines Nachfolgers.

Beringer führte den Chor nach Amerika, Russland und Japan

Der unverwechselbare des Windsbacher Knabenchores war das Markenzeichen von Lehmanns Vorgänger, Feuilletonisten sprachen gar vom Beringer-Chorklang. Der hatte den Chor 1978 von Thamm übernommen und den wertvollen Edelstein zu einem funkelnden Brillanten geschliffen.

Er führte die Windsbacher aus Europa heraus - unter seiner Leitung ging es 1983 erstmals nach Amerika, 1990 nach Russland, 1995 nach Japan. Er brachte die Windsbacher an die Knabenchor-Weltspitze.

"Dunkle Stunden": Chorleiter wurden der Misshandlung beschuldigt

Bei aller Freude über 75 Jahre wollen die Windsbacher aber auch die "dunklen Stunden" in der Geschichte des Chores nicht vergessen oder verschweigen: 2004 gab es Vorwürfe gegen Beringer wegen Misshandlung Schutzbefohlener. Ermittlungen bestätigten diese Vorwürfe allerdings nicht.

2010 schließlich, drei Jahre nach Thamms Tod, erhoben Ehemalige Vorwürfe gegen den Chorgründer wegen angeblicher Misshandlungen. Miederer sagt, es könne "nur einen ehrlichen Umgang" damit geben.

Das heißt: Die Verfehlungen benennen. "Man muss aber auch sehen, dass die Personen damals mit den Methoden von damals gearbeitet haben." Diese seien aus heutiger Sicht zurecht falsch und verboten, "aber damals war das üblich" - und auch erlaubt.

Chorleiter Lehmann sagt es so:

"Diese dunklen Seiten tragen wir als Mahnung weiter mit uns."

Wichtig sei ihm Demut. Wenn ein Chorsänger nach vielen Jahren bei ihm aufhöre, "bitte ich ihn um Vergebung". Jeder mache mal Fehler: "Das ist menschlich." 
 

Windsbacher Knabenchor

Eine Übersicht über alle wichtigen Meilensteine in der Geschichte des Windsbacher Knabenchors finden Sie hier. Dort erfahren Sie auch, welche berühmten Persönlichkeiten der Knabenchor hervorgebracht hat. Wie der Choralltag genau aussieht, erzählt Paul Schießl