Soviel einhelliges Lob für Angela Merkel gab‘s vermutlich nie zuvor in ihrer 16 Jahre währenden Kanzlerschaft: Die Kanzlerin demonstriere "souveräne Geschmackssicherheit", attestierte etwa die "FAZ" der CDU-Politikerin. Sie zeige sich als "Vermittlerin mit Haltung", so das Daumen-hoch-Urteil des Bayerischen Rundfunks.

Bezieht sich allerdings beides nicht auf die Politik der scheidenden Kanzlerin. Sondern auf ihren Musikgeschmack. Konkret auf die Lieder, die sie sich für den Großen Zapfenstreich am Donnerstag (2. Dezember, 19.30 Uhr, Live-Übertragung im ZDF) gewünscht hat, wenn sich die Bundeswehr von ihr mit dem in Deutschland höchsten militärischen Zeremoniell verabschiedet. Mit Fackelträgern und Bundeswehrmusiker*innen, die Merkel als Abschiedsgeschenk ihr ganz persönliches Wunschkonzert bieten.

"Großer Gott, wir loben Dich" - ein Titel auf Merkels Wunschliste

Die Zapfenstreich-Hitliste ist eigentlich geheim, weil als Überraschung geplant. Aber wie das so ist mit Geheimnissen und Überraschungen – es soll Menschen geben, die zu den Probenräumen des Stabsmusikkorps der Bundeswehr schleichen und belauschen, was da gerade eingeübt wird.

Angeblich haben die Musiker*innen der Bundeswehr zuletzt diese drei Lieder geprobt: "Du hast den Farbfilm vergessen" von Nina Hagen, "Für mich soll‘s rote Rosen regnen" von Hildegard Knef und das so bekannte wie beliebte Kirchenlied "Großer Gott, wir loben Dich".

Was will uns die Kanzlerin mit ihrer Liedauswahl sagen?

Diese Lieder soll sich Angela Merkel persönlich ausgesucht haben für ihren Abschied am Donnerstagabend im Bendlerblock, dem Dienstsitz des Bundesverteidigungsministeriums. Das zumindest berichtet der "Spiegel", der daraus fix eine kaum 11 Minuten lange Playlist bei Spotify erstellt hat.

Und natürlich schlägt damit die Stunde der Merkelschen Hitlist-Exegeten, die diese Frage umtreibt: Was will uns die Kanzlerin damit sagen?

Nina Hagen, Hildegard Knef, ein altes Kirchenlied

Warum sie sich für diese Lieder entschieden hat, was sie mit ihnen verbindet – all das wäre natürlich hochinteressant. Aber sowas verrät Angela Merkel nicht, ihr Sprecher Steffen Seibert sagte über die Musikauswahl auf Nachfrage von Journalisten: nichts. Alles andere wäre bei der für ihre Diskretion bekannten Kanzlerin auch eine ziemliche Überraschung.

Überrascht waren einige Medien deshalb vor allem darüber, dass Merkel sich den schnoddrigen Song der Punkrockerin Nina Hagen ausgesucht hat, einen alten, noch immer lässigen DDR-Hit. Der Knef-Klassiker wurde, nun ja, als Anflug von Sentimentalität gelesen. Und "Großer Gott, wir loben Dich" schnell abgehakt, so nach dem Motto: Typisch Pfarrerstochter!

Doch wer mit der Deutung hier aufhört, verpasst das Beste.

Denn das alte Kirchenlied aus dem 18. Jahrhundert kann als hochaktuelles Statement zu den drängendsten Fragen unserer Zeit interpretiert werden.

Die christliche Pflicht zur Bewahrung der Schöpfung angesichts des Klimawandels ("Himmel, Erde, Luft und Meere sind erfüllt von deinem Ruhm; alles ist dein Eigentum"). Gottvertrauen ("Starker Helfer in der Not!") und Trost in den schweren Tagen dieses zweiten Corona-Winters  ("Lass uns deine Güte schauen... Auf dich hoffen wir allein; lass uns nicht verloren sein"). Der versöhnliche Hinweis auf Verbindendes in einer Zeit, in der von Spaltung der Gesellschaft die Rede ist ("Durch dich steht das Himmelstor allen, welche glauben, offen") – all das steckt, durch unsere moderne Brille betrachtet, auch in den Liedzeilen des Priesters Ignaz Franz aus dem Jahr 1771, die wenige Jahre später vertont und später um Varianten ergänzt wurden.

Auch Helmut Kohl wünschte sich ein Kirchenlied

Verbindendes auch hier: "Großer Gott, wir loben Dich" ist ein feierlicher und optimistischer Lobgesang – bei Katholiken und Protestanten gleichermaßen. Rund 40 Jahre nachdem es erstmals in einem katholischen Gesangbuch abgedruckt wurde, erschien es 1819 auch in evangelischen Liederbüchern. Es ist eines der wenigen Lieder im evangelischen Gesangbuch, das ursprünglich katholischen Ursprungs ist.

Übrigens: Ein Kirchenlied zum Abschied zu wählen, ist nicht ausschließlich Pfarrerstöchtern vorbehalten.

Auch auf der musikalischen Zapfenstreich-Wunschliste von Merkels Vor-Vorgänger Helmut Kohl, Sohn eines Finanzbeamten, stand 1998 ein beliebtes ökumenisches Kirchenlied: der Choral "Nun danket alle Gott".