Er gilt als einer der renommiertesten Terrorismus-Experten in Europa: Peter Neumann, 45, stammt aus Würzburg und lehrt als Politikwissenschaftler am Londoner King's College.

Neumann berät Regierungen und internationale Organisationen, wie etwa den UN-Sicherheitsrat. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist der Prozess der Radikalisierung. Im Gespräch mit sonntagsblatt.de erläutert er, weshalb er zumindest Teile der "Querdenker"-Bewegung für gefährlich und gewaltbereit hält und weshalb die große Blütezeit der Populisten erst einmal vorbei ist.

Herr Neumann, lange Zeit gab es keine islamistischen Anschläge mehr in Europa - dann kamen Paris, Nizza und Wien. Wie groß ist die Gefahr aktuell, vor allem in Deutschland?

Neumann: Die Gefahr ist sicher viel geringer als etwa vor fünf oder sechs Jahren. Da gab es mit dem Islamischen Staat (IS) eine Organisation, die im Nahen Osten ein großes Territorium hatte, die eine Infrastruktur vorgehalten hat, bei der Leute für Anschläge ausgebildet wurden, von der Operationen geplant und Attentäter gezielt nach Europa zurückgeschickt wurden. Das gibt es heute alles nicht mehr. Aber trotzdem ist die Bedrohungslage heute wieder größer ist als vor ein bis zwei Jahren.

Wieso hat die Gefahr in den vergangenen ein bis zwei Jahren wieder zugenommen?

Neumann: Zum einen gibt es nach wie vor ein gewisses Reservoir an Menschen, die sich für die Ideen des IS begeistern lassen. Zum anderen waren die Anhänger des IS nach der Niederlage in Syrien und im Irak in einer Art Sinnkrise, dass ihr vermeintlich tausendjähriges Reich nach nur wenigen Jahren kollabiert ist. Aber diese Sinnkrise ist vorbei. Man hat sich neu "aufgeladen" - und mit jedem neuen kleinen Anschlag steigt die Motivation der Sympathisanten. Man kann das sehr gut in den Messenger-Kanälen beobachten, wo die IS-Anhänger kommunizieren.

Welche Rolle könnte ein Machtvakuum in Afghanistan spielen, wenn die US-Amerikaner doch noch dem Willen von Präsident Trump folgen und schnell von dort abziehen?

Neumann: Dieses Szenario ist in der Tat nicht unproblematisch. Der IS wartet nur darauf, dass es zu einem vollständigen Rückzug westlicher Truppen kommt. Die Taliban werden den US-Amerikanern bei den Friedensgesprächen zwar Versprechungen machen, aber ich gehe davon aus, dass sie nicht in der Lage und nicht willens sind, andere Dschihadisten unter Kontrolle zu bringen. Auch innerhalb der Taliban gibt es einen Riss: Jüngere, radikale Kommandeure sind mit dem vermeintlichen Friedenskurs nicht zufrieden. Das wären die ersten Kandidaten, die sich dann womöglich dem IS anschließen.

Blicken wir nach Deutschland: Die "Radikalen", das sind zumindest in der Wahrnehmung eher nicht die Islamisten, sondern eher die immer militanter wirkenden Corona-Gegner...

Neumann: Das ist eine der interessantesten Entwicklungen der vergangenen Jahre. Bis vor einem Jahr hat man sich in Deutschland ja gestritten, wer gefährlicher ist - Islamisten oder Rechtsradikale. Die Wahrheit ist, dass beide gefährlich sind. Aber jetzt entsteht etwas Neues, das absolut schwer zu durchschauen ist. Die selbst ernannten "Querdenker" sind eine sehr diffuse Bewegung, da kommen ganz unterschiedliche politische Strömungen und Extremismen zusammen. Rechtsextreme versuchen diese Bewegung zu kapern - aber so leicht ist das offenbar nicht.

Können Sie sich diese Mischung erklären? Impfgegner, Reichsbürger, Rechtsradikale - was ist der kleinste gemeinsame Nenner dieser Gruppen aus ihrer Sicht?

Neumann: Es ist der Widerstand gegen einen Staat, der seine Bürger angeblich unterdrückt, ihnen durch die angeblich geplante Implantation von Mikrochips an die körperliche Unversehrtheit will. Das ist das Narrativ. Wie bei jeder extremistischen Bewegung ist es auch hier so, dass die Leute durch eine angebliche existenzielle Bedrohung mobilisiert werden. Mit der angeblichen Bedrohung kann dann alles gerechtfertigt werden: Missachtung staatlicher Vorgaben, Demonstrationen trotz Verbot - und letztlich auch Gewalt. Deshalb halte ich die Bewegung für gefährlich.

Politiker fordern, dass der Verfassungsschutz die "Querdenken"-Bewegung im Blick behalten soll. In Baden-Württemberg gelten sie inzwischen als Beobachtungsfall. Halten Sie das für angesagt?

Neumann: Fast alle terroristischen Gruppen, mit denen wir es in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zu tun hatten, sind Abspaltungen von größeren radikalen Bewegungen. Die RAF etwa war ein Randprodukt der 68er-Studentenbewegung. Die aufbegehrenden Studierenden waren eine radikale Bewegung, aber die meisten sind dann den Marsch durch die Institutionen angetreten, wie der spätere Grünen-Politiker Joschka Fischer. Andere wurden Lehrer oder Professoren - und damit sicher keine Gefahr für unsere Gesellschaft. Es gab aber auch einige Gewaltbereite.

Und Sie befürchten, dass es so eine gewaltbereite Abspaltung auch bei den "Querdenkern" geben könnte? Eine Art Corona-RAF?

Neumann: Diese Gefahr besteht. Die "Querdenker" sind eine, wie schon gesagt, sehr heterogene Bewegung, in der einzelne Strömungen zwar legitime Bedenken vorbringen. Es könnte aber durchaus eine kleine extremistische Minderheit geben, die ins Gewaltbereite abdriftet. Und alleine weil diese Gefahr besteht, halte ich eine Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden für geboten. Der Verfassungsschutz soll ja ein Frühwarnsystem sein.

Es gibt ja offenbar engere Verbindungen zwischen AfD und "Querdenken" - wie sehr nutzt die Partei diese Bewegung für ihre Zwecke, oder ist es vielleicht sogar umgekehrt?

Neumann: Nach meiner Wahrnehmung versucht die AfD sehr intensiv und fast schon verzweifelt, sich an diese Bewegung dranzuhängen. Die "Querdenker" brauchen die AfD derzeit nicht wirklich. Die Verbindungen sind also momentan eine Einbahnstraße - die Bewegung hat in der AfD noch nicht ihren politischen Arm entdeckt, wie das damals beispielsweise bei Pegida war. Die AfD muss zudem aufpassen, dass sie die letzten verbliebenen bürgerlichen Reste in ihren Reihen nicht völlig vergrault. Die haben nämlich kein Interesse, sich mit allen Aspekten der "Querdenker" zu identifizieren. Dort sind zwar nicht nur Rechtextreme unterwegs, aber eben sehr viele Verschwörungstheoretiker?

Wie bewerten Sie den Vorfall im Bundestag, als mehrere AfD-Politiker rechte Youtuber als Fraktionsgäste eingeladen haben, die dann Politiker anderer Parteien bedrängt haben?

Neumann: Diesen Vorfall sollte man keinesfalls herunterspielen, aber: Diese Aktion war bei weitem nicht das Schlimmste, was die AfD seit ihrem Bestehen getan hat. Vielleicht war die Empörung über diese Aktion auch deshalb so groß, weil einige Politiker den schädlichen Einfluss der AfD dabei am eigenen Leib erfahren haben und deshalb geschockt waren. Aber wenn man sich anschaut, wie sich die AfD-Vertreter - und hier vor allem die Politiker des früheren "Flügels" - im Osten äußern oder verhalten, wie offen da rechtsextreme Rhetorik zutage tritt, wie sehr die Nähe zu Neonazis gesucht wird, dann muss man sagen: Das, was da im Bundestag passiert ist, war nur die Spitze des Eisbergs.

Phasen wie die Corona-Pandemie sind Zeiten der Exekutive - die Zustimmungswerte für die Regierungen waren anfangs auch hoch. Wieso bröckelt das nun so stark?

Neumann: Das hat zwei Gründe. Zum einen dauern die Corona-Maßnahmen inzwischen viel länger, als man das am Anfang kommuniziert und erwartet hat. Zum anderen schätzen viele Menschen die Gefahr inzwischen als viel geringer ein. Auch, weil es keine so dramatischen Bilder mehr wie noch im Frühjahr gibt, als in Italien Lkw-Ladungen voller Särge abtransportiert wurden. Es hat deshalb eine Art Gewöhnungseffekt eingesetzt - und dieser mindert die Akzeptanz bei den Einschränkungen.

Weshalb nehmen immer mehr Menschen in dieser Situation gleich radikale Positionen ein? Deutschland galt doch jahrzehntelang als "Mitte-Weltmeister"...

Neumann: Ich glaube, dass diese Polarisierung der Politik in Deutschland eher schon wieder rückläufig ist - auch gerade wegen der Corona-Pandemie. Wenn man sich die Zustimmungswerte von Union bis Grünen anschaut, kann man eigentlich nicht davon sprechen, dass populistische Parteien wie die AfD oder die Linke von der Pandemie profitiert haben. Die populistischen Strömungen hatten Auftrieb durch die Flüchtlingskrise ab 2015, durch den Brexit, durch die Wahl von Donald Trump in den USA oder Boris Johnson in Großbritannien. Aber dieser "Siegeszug" scheint mir vorbei...

Sie sehen die populistischen Strömungen im Abwind?

Neumann: Der Drang zu den Rändern, die Zersplitterung des Parteiensystems hat jedenfalls aufgehört. Ich denke, viele Menschen, die populistisch gewählt haben, haben gerade in so einer existenziellen Krise wie der Corona-Pandemie gesehen, dass Populisten es eben nicht besser machen, wenn sie an der Macht sind. Und viele sehen sogar, dass sie es sogar schlechter machen, weil sie eben vor allem als Sprücheklopfer gut sind, nicht aber für "langweiliges Krisenmanagement".

Wie sehr wird der bevorstehende Auszug von US-Präsident Trump aus dem Weißen Haus die populistischen Bewegungen weltweit schwächen?

Neumann: Hilfreich ist es für Politiker wie Boris Johnson oder auch Parteien wie die AfD sicher nicht, wenn ihr großes Idol plötzlich nicht mehr im Amt ist. Aber: Auf uns kommen schwierige Jahre zu. Wenn die akute Phase der Pandemie-Bekämpfung vorbei ist, werden die wirtschaftlichen Kosten dieser Krise offensichtlicher werden, als sie es bislang sind. Die Arbeitslosigkeit wird steigen, ich erwarte eine Wirtschaftskrise. Schwer vorherzusagen, wer daraus gestärkt herausgeht. Ob die Populisten weltweit aus dieser Entwicklung Kapital schlagen können, liegt vor allem daran, ob ihre enttäuschten Wähler diese Enttäuschung schnell vergessen.