Nachdenklich steht Christian Priesmeier in der Veste Coburg vor dem berühmten Porträt von Martin Luther. Lucas Cranach der Ältere hat es 1528 gemalt. Es sieht so aus, als ob Christian Priesmeier stumme Zwiesprache mit dem Reformator halten würde. Ein Lächeln huscht über das Gesicht des vollbärtigen 53-Jährigen. Hat er etwa nur in einen Spiegel geschaut beim Betrachten des Bilds und sich darauf wiedererkannt?

So verwunderlich wäre das nicht. Denn Priesmeier ist mit Martin Luther verwandt. Eng verwandt sogar: "Ich bin in der 14. Generation Nachfahre", erklärt der Mann aus dem niedersächsischen Hameln. Seine direkte Linie gehe auf Luthers Sohn Paul zurück: "Er war ein bedeutender Arzt, hat aber natürlich nie den Status seines Vaters erreicht", erzählt Christian Priesmeier, der selber Theologe und Prädikant in der Hannoverschen Landeskirche mit Abendmahlsbeauftragung ist.

Circa 5.800 lebende Nachfahren Luthers weltweit

Er ist beileibe nicht der einzige lebende Nachfahre Luthers: Schätzungsweise 5.800 Personen gibt es weltweit, die ihren Stammbaum auf Martin Luther und seine Ehefrau Katharina von Bora zurückführen können. Etwa 25.000 weitere Personen gehören zu den Seitenlinien, sind also Nachfahren der Geschwister von Martin und Katharina. Rund 200 Verwandte aus der Hauptlinie und den Seitenlinien gehören zur Lutheriden-Vereinigung, Christian Priesmeier ist deren Vorsitzender.

Die Lutheriden-Vereinigung beschäftigt sich mit genealogischer Forschung: "Um das Wesen von Martin Luther oder wofür er gestanden hat in der Familie und in der Öffentlichkeit weiterzugeben und ein Gedächtnis an ihn herzustellen", wie Priesmeier sagt. 1926 wurde die Vereinigung mit Sitz in Hamburg gegründet. Auch in der späteren DDR gab es Lutheriden, die sich regelmäßig trafen; jedoch eher in heimlich verabredeten Hauskreisen. Nach der Wende 1989 kam es zum Zusammenschluss der West- und Ost-Lutheriden. Der Vereinssitz wurde nach Zeitz verlegt.

Gedenkstätten als Treffpunkte

Und wie es in einer intakten Familie guter Brauch ist, treffen sich die Lutheriden im Zweijahresrhythmus zum gemeinsamen Wiedersehen, und zwar stets an Luther-Gedenkstätten. Also mal in Eisenach oder Wittenberg, in Augsburg oder Eisleben. Und jetzt eben in Coburg wie 30 Jahre zuvor bei der Wiedervereinigung.

Hier machen sich 70 Lutheriden aus Deutschland, England und Amerika – Männer, Frauen und Kinder – auf die Spuren Martin Luthers in der Stadt. Hier in der kursächsischen Veste Coburg verfolgte Luther 1530 den Augsburger Reichstag, von dem sich alle eine Lösung der Religionsfrage erwarteten. Über Luther war 1521 die Reichsacht verhängt worden. Er konnte die Ereignisse in Augsburg nicht ohne Furcht vor Verhaftung verfolgen, sodass ihm Kurfürst Johann der Beständige das Coburger Schloss zum Aufenthaltsort bestimmte.

Verpflichtung zum Bekenntnis

In sechs Monaten verfasste Luther dort mehrere Traktate, über 120 Briefe an die kurfürstliche Delegation in Augsburg, arbeitete an Bibelübersetzung und -kommentar. Und soll der Legende nach auch in seiner Coburger Kemenate – wie auf der Wartburg – mit dem Tintenfass nach dem Teufel geworfen haben.

All das erfahren die Lutheriden bei ihrem Besuch in der Veste Coburg aus dem Munde des Gästeführers Roland Schäfer. Er lässt ihnen Zeit in den Lutherzimmern, die zum emotionalen Höhepunkt des Tages werden – nicht nur für Christian Priesmeier vor dem Porträt seines Vorfahren. Petra Wiban etwa, in der 13. Generation nach Luther, begrüßt das Bild mit einem leisen "Hallo Opa!"

Der Oberlausitzer Martin Richter aus der direkten Linie nach Paul Luther erinnert sich an seine Mutter, die in der DDR seinen "altmodischen Namen Martin nach Martin Luther" durchsetzen musste. Und die Leipzigerin Cornelia Brinkmann freut sich schlicht und einfach, als Lutheridin zur Familie dazuzugehören: "Meine Oma mütterlicherseits ist eine geborene Luther. Der Ursprung liegt bei Jakob Luther, dem Bruder von Martin Luther", berichtet Cornelia Brinkmann und davon, wie die Genealogen der Lutheriden-Vereinigung ihr geholfen haben, den Familienstammbaum lückenlos zu erstellen.

Ganz im Sinne des Familienmenschen Martin Luther, der mit seiner Katharina sechs Kinder hatte, verbringen die Lutheriden harmonische Tage in Coburg. Natürlich dürfen Andacht, Gebet und Gottesdienst nicht fehlen, die sie in das barocke Kirchlein in Großheirath bei Coburg führt. Mit Inbrunst stimmen die Lutheriden den vom Reformator getexteten Choral "Ein feste Burg" an, das evangelische Bekenntnislied schlechthin. Christian Priesmeier ist glücklich: Der Vater von drei Kindern und Großvater von sechs Enkeln vernimmt, dass die direkte Nachkommenschaft von Martin Luther ihre Verpflichtung zum Bekenntnis ernst nimmt – bei aller Freiheit eines Christenmenschen.