Die Zahl der Menschen, die sich am Münsterplatz Jahr für Jahr am Abend des 17. Dezember am Rand des Weihnachtsmarkts versammeln und denen der schwere Klang der Glocken über der Stadt an diesem Tag und um diese Uhrzeit traumatische Bilder in Erinnerung ruft, wird kleiner: Am 17. Dezember 2019 jährt sich der Bombenangriff auf Ulm, der die Stadt zerstörte, zum 75. Mal.
In Ulm gibt es die Vereinbarung, dass während jener 27 Minuten zwischen 19.23 und 19.50 Uhr, in denen 1944 96.646 Bomben auf die Stadt fielen, die Fahrgeschäfte des Weihnachtsmarkts still sind. Die Glocken der Kirchen erinnern an jenen Abend des 3. Adventssonntags, als über 700 Menschen in der Stadt ums Leben kamen. Darunter Kinder, die gerade auf dem Heimweg von einer Weihnachtsfeier in der evangelischen Dreifaltigkeitskirche gewesen waren. Die Stadt brannte, meterhohe Feuersäulen schlugen aus Häusern und Plätzen.
Münster bietet Obdach
25 000 Menschen wurden obdachlos an jenem Abend, als über 80 Prozent der Ulmer Altstadt in Schutt und Asche fielen. Vielen von ihnen wurde das Münster, das zwar nicht ganz ohne Beschädigungen geblieben war, zum Schutz vor der größten Kälte in jenen Tagen vor Weihnachten 1944. Die obdachlos gewordenen Familien hatten alles verloren, trauerten um Angehörige und hatten in jenen Weihnachtstagen andere Sorgen als die, dass mit dem Hausrat auch der traditionelle Baumschmuck der Familien, die Krippen und die Geschenke für die Kinder untergegangen waren. Heiligabend 1944 gab es in Ulm weder Wasser noch Gas oder Licht.
Ein Gottesdienst im Münster fand dennoch zu Heiligabend statt: "Glassplitter und Schutt, Asche und Staub türmten sich auf den Bänken. Kalter Winterwind pfiff durch die riesigen offenen Fensterhöhlen", notierte damals Pfarrer Ernst Class. Das erste Weihnachten des Friedens mag für die Kinder und Jugendlichen innerlich tief erschütternd gewesen sein. Er habe zum ersten Mal in einer Wärmestube christliche Weihnachtslieder gehört, erinnert sich ein damals 15-Jähriger, der mit den umgedeutenden Liedern der nationalsozialistischen Weihnachtsfeiern aufgewachsen war.
Wie tief sich jener 3. Adventssonntag ins Erleben der Menschen in der Region eingrub, zeigt ein in einfachen Farben gehaltener Ausschneidebogen, den die im April 1946 gegründete Ulmer Volkshochschule im ersten Jahr ihres Bestehens herausgab. Er richtete sich an Erwachsene und an Kinder, erklärt, wie die Krippe aufzubauen ist, und hofft noch auf ein Kerzenstümpchen, um die gedruckte Laterne zu erleuchten. Die Geburt Jesu findet in den Ruinen der Stadt statt, Engel sitzen auf den Mauerresten, und eine Familie, die zur Krippe geht, kommt vom Münsterturm her, der die Ruinen überragt. Es sollte Weihnachten werden, auch zwischen den Ruinen.
Einige wenige Familien besitzen diesen Ausschneidebogen noch, im Haus einer Familie im bayerischen Steinheim wird er sogar hinter Glas für kommende Generationen erhalten. "Denn das Freuen an den kleinen Dingen ist eine der feinsten und schönsten Künste, die der Mensch lernen kann", erklärt der gedruckte Text in der rechten unteren Ecke des Bogens dem, der ihn erhielt.