Das Zentralinstitut für psychische Gesundheit (ZI) in Mannheim bietet seit Ende 2020 bundesweit Erste-Hilfe-Kurse für psychische Notfälle an. Damit schließt die Einrichtung eine Lücke bei der Erstversorgung stetig zunehmender, psychischer Erkrankungen. "Mindestens 40 Prozent aller Erwachsenen erfüllen einmal im Leben die Kriterien für eine psychische Erkrankung", sagte Michael Deuschle, Leitender Oberarzt am ZI, sonntagsblatt.de.
Der Laie habe kein Konzept, um eine Psychose oder eine Depression zu erkennen, sagte Deuschle. Dabei sollte jeder den Unterschied zwischen eigenwilligem Verhalten oder Krankheit erkennen können und - ähnlich einem Ersthelfer bei einem Unfall - wissen, was zu tun ist. Es gehe vor allem darum, die "Scheu zu überwinden, das Thema anzusprechen", betonte der Experte.
Was "Mental Health First Aid" ausmacht
Auch wenn nicht jede psychische Erkrankung ein Notfall ist, das Rüstzeug, einen solchen zu erkennen, hilft. Angehörige, Freunde oder Kollegen lernen in den zwölfstündigen Erste-Hilfe-Kursen etwa eine Panikattacke zu erkennen, die richtigen Worte zu finden und die nötige Zeit für ein Gespräch einzuplanen. Der Ersthelfer hole Hilfe, Diagnostik und Therapie seien seine Aufgabe nicht, zieht Michael Deuschle die Grenze zwischen Erster und professioneller Hilfe.
Der Leiter der Arbeitsgruppe "Stressbezogene Krankheiten" hat die Lizenz für die Erste-Hilfe-Kurse bei psychischen Notfällen nach Deutschland geholt. Erfunden wurde die "Mental Health First Aid" (MHFA) in Australien, 24 Länder weltweit haben Lizenzverträge mit den Urhebern der Kurse abgeschlossen. Außer Ersthelfern bildet das ZI auch Instruktoren aus, die selbst Ersthelferkurse leiten.
"Machen Sie sich manchmal Gedanken, sich das Leben zu nehmen?"
Die Soziotherapeutin Susanne Lutz aus Babenreuth bei Nürnberg ist eine von knapp 100 Instruktoren in Deutschland. Sie bringt ihren Kursteilnehmern und Kursteilnehmerinnen bei, zu fragen: "Machen Sie sich manchmal Gedanken, sich das Leben zu nehmen?" Die Frage koste viele Teilnehmer große Überwindung. "Solche Fragen", sagt die Instruktorin, seien jedoch wie "Türöffner".
Es gehe darum, "Dinge besprechbar zu machen", weiß die Therapeutin aus Erfahrung. Im zweiten Schritt lehrt sie die Kursteilnehmer, mit der Antwort umzugehen und zu überlegen: Wie kann ich helfen? Letztlich gehe es in den Kursen darum, "ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Ängste oder Depressionen wichtige Themen seien", sagte Susanne Butz.
Was Ersthelfer zu tun haben
Helfen könnten Ersthelfer etwa, indem sie den Betroffenen ermutigen, sich professionelle Hilfe zu suchen, zählt Deuschle auf: Sie könnten eine Begleitung zum Arzt anbieten, bei der Suche nach Telefonnummern von Anlaufstellen, Selbsthilfegruppen oder Notfallambulanzen aktiv werden.
Laut dem Statista-Gesundheitsreport von 2020 sind psychische Krankheiten die zweitwichtigsten Ursachen von Krankmeldungen. Während eine Atemwegserkrankung öfter zu kurzen Krankmeldungen führe, gebe es durch psychische Erkrankungen zunehmend längere Krankmeldungen, beobachtet Michael Deuschle. Auslöser seien mehr Stress im Arbeitsalltag sowie eine höhere Sensibilität für psychische Probleme.
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Menschen mit psychischen Problemen
Wurden vor 20 Jahren erst die körperlichen Spätfolgen psychischer Probleme wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magengeschwüre oder Migräne behandelt, diagnostizierten Ärzte heute schneller eine psychische Belastung, sagte der Mediziner. Die Patienten mit Depressionen würden zudem immer jünger.
Jugendliche und junge Erwachsene leiden offenbar auch stärker unter den Kontaktbeschränkungen durch den Corona-Lockdown als ältere Menschen. Eine Umfrage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe ergab, dass seit März 2020 mehr Menschen unter Einsamkeit leiden und einen Behandlungstermin beim Psychologen vereinbarten.
"Manche aber wissen gar nicht, dass sie eine psychische Krankheit haben", beobachtet Michael Deuschle und wünscht sich gerade deshalb möglichst viele Ersthelfer für psychische Notfälle, idealweise sogar eine Aufnahme ins Präventionsprogramm der gesetzlichen Krankenkassen vergleichbar Yogakursen.