Die Städte wachsen, und sie verändern sich. Klimawandel, Digitalisierung, Migration, Corona-Krise: Viele Phänomene wirken sich auf die Entwicklung urbaner Räume aus.

Was genau da geschieht, erforscht Alain Thierstein, Professor für Raumentwicklung an der Technischen Universität München (TUM). Bis 2015 leitete er das Institut für Städtebau und Wohnungswesen München.

Darüber, woran sich Stadtentwicklung orientiert, sprach er mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Herr Thierstein, unsere Städte verändern sich. Welche Entwicklung hat darauf besonders viel Einfluss: Klimawandel, Digitalisierung oder Corona?

Alain Thierstein: Die jüngste Erfahrung ist natürlich der Lockdown, wenngleich die Maßnahmen in Deutschland nicht so hart waren wie in anderen Ländern. Aber diese unmittelbare Einschränkungserfahrung hat viele Menschen getroffen. Und viele gerieten in eine Veränderungseuphorie, wurden also hoffnungsfroh, dass sich nach der Pandemie etwas zum Besseren ändern würde. Doch wir müssen erst herausfinden, was gleich bleibt wie zuvor und was sich verändert. Das Schlagwort von der Resilienz, die oft als Zielvorstellung gilt, bedeutet ursprünglich nur die biologische Fähigkeit eines Systems, nach einem äußeren Schock wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

Welche Corona-Folgen müssen künftig bei Stadtentwicklung mitbedacht werden?

Thierstein: Die Ängstlichkeit etwa, sich im Gedränge zu bewegen, dürfte bei vielen Menschen noch einige Zeit bleiben. Das könnte sich auf den Handel auswirken. Und dass viele Menschen mehr von zuhause arbeiten, könnte auch die Struktur der Innenstädte verändern.

Könnte der Trend zum Homeoffice die strikte bauliche Trennung von Wohnen und Arbeiten in den Städten aufweichen, so wie sie das Baugesetzbuch bis heute vorsieht?

Thierstein: Unser Baugesetzbuch ist noch immer die Hochzeit des Funktionalismus, der in den 1920er- und 1930er-Jahren entstand, mit der "Charta von Athen", mit Le Corbusier und Bauhaus. Damals musste man weg von den dichten, gefährlichen Innenstädten, wo Menschen wegen ihrer Zwölf-Stunden-Tage nicht weit entfernt von ihrer Arbeit wohnen konnten und die Hygienezustände aufgrund der Emissionen und Immissionen schlimm waren. Das Konzept der funktionellen Stadt kam dann wie eine Befreiungstheologie, die versprach: Der Mensch kann sich individuell entfalten, wenn die Lebensbereiche räumlich getrennt werden.

2017 wurde im Baurecht die Kategorie "Urbanes Gebiet" eingeführt. Das soll es ermöglichen, in der Stadt dichter zu bauen und Nutzungen wie Wohnen und Gewerbe stärker zu mischen. Ist das bereits eine Abkehr von der funktionellen Trennung?

Thierstein: Es ist ein Versuch, die getrennten Bereiche zu versöhnen, sie in Heilung zu bringen. Ich denke, dass Wohnen und Arbeiten nicht generell zusammenrücken werden. Aber das "working from home" dürfte in großen Teilen bleiben, etwa mit dem Modell, dass man seine Arbeitszeit je zur Hälfte im Büro und zuhause verbringt. Da wird sich ein neues Gleichgewicht einpendeln.

Gibt es wegen Corona eine Flucht aufs Land - ziehen mehr Leute ins Grüne, weil sie plötzlich einen Garten wollen?

Thierstein: Die Pandemie lässt viele Leute bilanzieren: Meine Wohnung hat sich als zu wenig tauglich für "working from home" erwiesen. Bei einer neuen "halbe-halbe"-Aufteilung spare ich Pendelzeit und Pendelkosten, die ich weiter draußen für geeigneteren Wohnraum einsetzen kann. Leute, die hinausziehen, haben als Hauptkriterien: Die neue Adresse muss verkehrlich gut erreichbar sein, Breitbandanschluss und geringere Wohnkosten haben. An der TUM haben wir einen Index errechnet, welche Umlandgemeinden für diese 50:50-Haushalte infrage kommen. Eine Flucht aufs Land gibt es bislang nicht, aber schon die Tendenz, ein bisschen aus der Kernstadt rauszuziehen. Für die Kommunen ergeben sich Handlungsfragen: Wie gehen die empfangenden Kommunen mit dem Zustrom um? Wollen die sendenden Kommunen diese Menschen gehen lassen, oder können sie sich besser auf deren Bedürfnisse einstellen, etwa mit kleinen Grünräumen wie Pocket-Parks?

Gibt es bei der Stadtplanung eine Finalität, eine bestimmte Ziel- oder Zweckvorstellung?

Thierstein: Das unterscheidet sich je nach Stadt, Land, Gegend und nach der Zusammensetzung des dortigen Parlaments. In Berlin mit seinen mächtigen Bezirksregierungen ist das anders als in München, wo es eine Gesamt-Stadtentwicklungsstrategie namens "Perspektive München" gibt. Darin wurden im Jahr 2013 Leitlinien formuliert für eine "Stadt im Gleichgewicht": Der innere Zusammenhalt und die Orientierung nach außen müssen in Balance sein im Rahmen der globalen ökologischen Bedingungen.

Von welchen Werten wird Stadtentwicklung geleitet: Gemeinschaft, Partizipation, Toleranz, Gerechtigkeit?

Thierstein: Im Grundgesetz ist die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als Ziel festgelegt: die Verpflichtung, für alle Bürger überall im Land etwas Ausreichendes zu schaffen. Das wiederholt sich in den Landesverfassungen wie der bayerischen. Außerdem sagt das Grundgesetz: Eigentum verpflichtet. Da ist bei der Raumplanung noch Nachholbedarf, gerade was die Abschöpfung von Planungsmehrwert anbelangt. Der Staat ist aber nicht in der Lage, diese Werte mit Leistungen durchzusetzen und die Wirkungszusammenhänge zu erkennen - das übernehmen andere Akteure wie Unternehmen, aber auch die Kirchen.

Werte werden unter anderem von den Kirchen konkret in der Gesellschaft umgesetzt?

Thierstein: Ja, solche kapillar wirkenden Institutionen sind extrem wichtig. Es gilt herauszufinden, welcher Akteur mit welchen Instrumenten am besten geeignet ist, um eine bestimmte Wirkung zu erzeugen, etwa durch die Nähe zu bestimmten Gruppen. Die Kirchen zum Beispiel wissen, was die Menschen umtreibt, wo stille Not ist. Es geht nicht um einen sozialdemokratischen Paternalismus, sondern darum, die Menschen zu verstehen.

Wie sind die Kirchen an der Stadtplanung beteiligt?

Thierstein: Das Baugesetzbuch legt fest, wie die Träger öffentlicher Belange einbezogen werden, dazu gehören die Kirchen. Planung ist kompetent in der Fläche, das Sozialreferat kennt die Individuen - diese Kenntnisse gilt es wirksam zusammenzubringen. Wenn es die kirchlichen Institutionen wie Diakonie, Seelsorge und Suppenküchen nicht gäbe, wäre der sozialdemokratische Staat schlecht dran.

Gibt es bei der Nutzung kirchlicher Immobilien stadtplanerische Begehrlichkeiten?

Thierstein: Um Kirchengebäude geht es nicht, aber wir werden noch eine Diskussion führen müssen über die Friedhöfe. Als Horte des Rückzugs und der Kühlung gegen Hitzeinseln sind sie zentral. Es könnte noch Druck entstehen, was man mit diesen großen Flächen macht und ob man sie nicht weiter gestaltet, etwa mit Cafés und Spielplätzen.

Wie werden Bürger bei der Stadtplanung einbezogen? Subsidiarität bedeutet, Aufgaben möglichst auf der kleinsten Ebene zu lösen, in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Täte den Deutschen mehr Partizipation gut?

Thierstein: In der Schweiz, aus der ich komme, existiert ein anderes Verständnis von Subsidiarität. Es gibt die Volksrechte wie das Referendum. Außerdem sind Vorhaben und Finanzausgaben gekoppelt, das heißt: Jede Forderung hat ein Preisschild. Das schafft Verantwortungsgefühl. In Deutschland ist die Subsidiarität viel schwächer ausgeprägt. Trotzdem gibt es hier den Wunsch nach Beteiligung und auch Partizipationsprozesse - aber keine gesetzliche Basis dafür, dass die Ergebnisse daraus umgesetzt werden: Letztlich entscheidet hoheitlich der Staat. Diese Kluft sorgt oft für Frust und auch Radikalisierung. Aber es gibt auch niedrigschwellige Ansätze für Bürgerbeteiligung, etwa Quartiersbudgets wie neuerdings bei den Münchner Bezirksausschüssen. In subsidiären Systemen muss die Selbstverantwortung funktionieren. Es ist das Gegenmodell zum autoritären "command and control".

Verändern sich durch neuere urbane Konzepte - etwa Carsharing, Gemeinschaftsflächen, die Ökonomie des Teilens - Wertvorstellungen wie Eigentum?

Thierstein: Seit 20 oder 30 Jahren ist ein Trend beobachtbar, dass Nutzen für viele Menschen interessanter ist als Besitzen. Das zeigt sich besonders am Konzept "Mobility as a Service", also die integrierte Verknüpfung von Mobilitätsangeboten wie Carsharing, Leihfahrräder, ÖPNV. Viele junge Leute wollen zwar den Führerschein machen, aber kein Auto mehr besitzen. Andererseits sind in der Corona-Zeit einige Leute wieder auf das Auto umgestiegen. Es überlagern sich also Trends. Ich denke, die Ansprüche verändern sich, aber weniger schnell als von einigen erhofft.

Welchen Einfluss hat die Digitalisierung: Gibt es wegen dem Onlineshopping bald keine Geschäfte mehr?

Thierstein: Das erste iPhone kam 2007 auf den Markt, die Entwicklung mit dem Onlinehandel zeichnet sich also seit mehr als zehn Jahren ab. Das Problem mit den sterbenden Innenstadt-Geschäften in den Kommunen ist hausgemacht - Stichworte: außen liegender, großflächiger Einzelhandel, Umgehungsstraßen, die das Leben innen rausziehen, unpassendes Wohnungsangebot. Hier könnte sich längst etwas verändern.

Wie stellen sich die Städte auf den Klimawandel ein, gerade im Angesicht der jüngsten Flutkatastrophe?

Thierstein: Der erste Bericht des Weltklimarats kam 1990 - seitdem hatten die Kommunen durchaus Zeit, etwas zu tun. Aber weil sich die Gefahren nicht so zugespitzt darstellten, ist die Strukturveränderung langsam. Beim aktuellen Hochwasser sieht man wieder: Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem, was Menschen kurzfristig wollen, was sie langfristig falsch machen und den topographischen Gegebenheiten. Das heißt: Es gab im Ahrtal schon früher Flutwellen - aber man wollte das Risiko nicht wahrhaben und hat an ungeeigneten Stellen gebaut. Vor allem muss man die tieferen Strukturen erkennen, etwa den Zusammenhang zwischen der Flutkatastrophe und Corona.

Hängen diese Phänomene wegen der globalisierten Wirtschaftsweise zusammen?

Thierstein: Im Wettlauf um billigere Produktion wird die unberührte Natur weiter ausgebeutet. Das hat bereits Erderwärmung und Wetterextreme verursacht. Unser flächenintensives und expansives Verhalten bedrängt die freien Räume und Ökosysteme, und diese zeigen dann Abwehrreaktionen: Viren von Wildtieren springen auf den Menschen über. Die Zusammenhänge sind komplex, und viele Leute sagen angesichts dessen, okay, ich begreife es nicht. Das meine ich: Partizipation und Subsidiarität sind anstrengend, weswegen oft lieber nach Kommando und Kontrolle gerufen wird.