Wann haben Sie zuletzt nichts getan? Sie erinnern sich nicht? Da sind Sie nicht allein. Jeder dritte Berufstätige ist mittlerweile permanent gestresst und kann nicht mehr abschalten - weder den Kopf noch das Handy. Höher, schneller, weiter gilt für die Karriere ebenso wie für die körperliche Selbstoptimierung. Mit Schrittzähler, der die Ergebnisse sofort im Netz postet, um sie mit anderen zu messen. Überhaupt, das Internet: Alles wird zum Skandal gehypt, anonyme Hetze, digitale Dauerregung und Überwachung sind allgegenwärtig.
Doch damit ist bald Schluss. Das zumindest prognostiziert Matthias Horx. Im Zukunftsreport 2016 erklärt der Soziologe Achtsamkeit zum »Megatrend« der kommenden Jahre. Es sei die Zeit der Gegentrends: Globalisierung führe zur Sehnsucht nach Heimat. Individualisierung verursache eine Suche nach Gemeinschaft. Und Achtsamkeit sei der mächtigste dieser Antitrends: In einer überreizten und übervernetzten Welt wollten die Menschen jetzt ihre Souveränität zurück. Auf die Begeisterung über die grenzenlose Informationsfülle folge Ernüchterung.
Industrie hat Achtsamkeit entdeckt
Achtsamkeitsmenschen verabschieden sich von schrillen Sensationen. Weg vom Panik-Diskurs, hin zur persönlichen Beziehung. Weitere Grundideen: Entspannung fängt im Kopf an. Im Hier und Jetzt leben. Bewusst tun, was man tut. Weniger Wettbewerb, kein Multitasking. Den Autopiloten stoppen und das Gedankenkarussell anhalten. Gelassen werden. Selbstakzeptanz statt Selbstoptimierung.
Um all das zu lernen, lässt sich viel Geld ausgeben. Eine ganze Industrie hat die Entschleunigung für sich entdeckt und bietet von der Klosterauszeit über Yogakurse für alle Lebenslagen bis zum Unternehmensberater, der eine Firma achtsam macht, alle denkbaren Angebote, um zur Ruhe zu kommen.
Achtsamkeit: Zentrales Thema des Christentums
Die Kirchen lehren diese Techniken seit jeher. Doch es scheint, als hätten sie ihr Monopol zum Teil verloren an Lebenshilfecoaches oder fernöstliche Traditionen. Dabei ist Achtsamkeit seit jeher zentrales Thema des Christentums. 2013 veröffentlichte Befreiungstheologe Leonardo Boff ein Buch mit dem Titel Achtsamkeit - von der Notwendigkeit, unsere Haltung zu ändern. Darin beschreibt er sie als Chance zur Abkehr vom Wahn des Wachstums hin zu Frieden, Gerechtigkeit und dem Schutz der Erde. »Fortschritt war und ist der wahre Gott der Menschen«, so Boff: »Er wird von allen verehrt, alle müssen ihm dienen.« Das aber sei der Weg zur Selbstzerstörung. Als Ausweg sieht er Achtsamkeit: eine liebevolle Beziehung zu allem, was existiert.
Wird Achtsamkeit nun ein Megatrend? Es wäre uns zu wünschen. Und nicht nur eine Chance für die Menschen, sondern auch für die Kirchen. Denn offenbar gibt es hier ein großes Bedürfnis - und sie haben alles, um es zu erfüllen.
Beispiel gefällig? Einmal mehr ist es das Buch der Bücher, das klipp und klar und völlig kostenlos die Essenz von dem verrät, was es zum Thema Achtsamkeit zu begreifen gilt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (Markus 12, 31).