Bei der Suche nach Wegen, wie der Erde auch noch die letzten in der Tiefe verborgenen Rohstoffe entrissen werden können, beweist der Mensch eine ungeheuere Kreativität. Weil die herkömmlichen Öl- und Gasquellen so langsam versiegen, wird mit giftigen Chemikalien versetztes Wasser mit Hochdruck in Bohrlöcher gepresst. Das Gestein wird dabei von den Chemikalien aufgesprengt, gefrackt. Aus den Trümmern wird Gas frei, das dann abgesaugt wird, zusammen mit dem giftigen Wasser. Das Gas-Gift-Gemisch gelangt dabei jedoch auch ins Grundwasser, denn beim Fracking entstehen im umliegenden Gestein Risse.
Im Fracking-Land USA wurden bereits mehrfach Gasrückstände im Trinkwasser nachgewiesen - dazu kommen ein Fischsterben in West Virginia, ein brennender Wasserhahn in Colorado, ein verseuchtes Feuchtgebiet in Pennsylvania - eindrucksvoll in der 2010 erschienen Studie "Gasland" dokumentiert. Einem Bericht der US-Umweltbehörde EPA zufolge verseucht jedes einzelne Fracking-Bohrloch mehrere Millionen Liter Wasser.
Fracking zeugt vom Willen des Menschen, aus der Erde auch noch das Letzte herauszuholen. Es steht für die rücksichtslose Ausbeutung, die Plünderung des Planeten Erde.
Zerstörerischer Umgang mit der Welt ist Selbstzerstörung
Der Mensch hat weite Teile der Erdoberfläche verwüstet, nun schlägt er der Erde auch noch Wunden in der Tiefe. Viele Naturvölker sehen in der "Mutter Erde" einen lebenden Organismus. "Die Erde bespuckt man nicht", lehrte zum Beispiel der Indianerhäuptling Seattle. "Sie ist unsere Mutter."
Aber auch in der Wissenschaft hat die These Anhänger gefunden, dass der Planet Erde ein vielfach vernetzter, lebendiger und verletzbarer Organismus ist. Der britische Wissenschaftler James Lovelock (93) benannte seine Theorie des "lebenden Systems Erde" nach der altgriechischen Erdgöttin Gaia. Leonardo Boff scheint Lovelocks Gaia-Hypothese zu teilen, wenn er anmerkt: "Die Erde ist lebendig und regt sich." Und wenn er warnt: "Wir führen einen totalen Krieg gegen Gaia, wohl wissend, dass wir daraus niemals als Sieger hervorgehen können."
Boff sieht derzeit "eine Art systematischer Aggression gegen die Natur" im Gange. Sie begann mit der Industrialisierung des 17. Jahrhunderts, aufgrund der neuen Technologien verschärft sie sich dramatisch. Damals, so Boff, hatten die politischen Kräfte des europäischen Bürgertums begonnen, die Welt zu erobern, und zwar mit militärischer, politischer und religiöser Gewalt. Die Utopie der Moderne war der unendliche Fortschritt, der sich in der Anhäufung von Reichtum und Macht konkretisierte. "Der Fortschritt war und ist immer noch der wahre Gott des Menschen", urteilt Boff. "Er wird von allen verehrt, und alle müssen ihm dienen." Solidarität mit den künftigen Generationen kenne diese Art von Herrschaft nicht. Boff sieht "ein Prinzip der Selbstzerstörung" am Werk, das einen ersten Höhepunkt in "dem größten terroristischen Attentat der Geschichte" fand: dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945.
Leonardo Boff: Menschen empfinden sich als Besitzer der Erde
Boff stellt fest, dass die Erde nicht mehr als Große Mutter gesehen wird, die Respekt und Ehrfurcht verdient, weil sich alle Teile eines großen Ganzen mit ihr verbunden fühlen. Sie werde als lebloses Objekt betrachtet, über das wir nach Gutdünken verfügen können. Der Mensch empfinde sich als "Herr, König und Besitzer" der Erde. Eine Gewaltbeziehung. Boff prangert die Vergöttlichung des Wachstums an. Für ihn ist nicht akzeptabel, dass sich ein Wachstum von zwei bis vier Prozent "als völlig selbstverständlich" durchgesetzt hat. "Die Menschen kaufen und konsumieren Dinge, die sie zum Großteil nicht brauchen", sagt er und beklagt den maßlosen Lebensstil der westlichen Welt: "95 Prozent dessen, was in den Kaufhäusern, Konsumtempeln angeboten wird, ist für ein anständiges Leben nicht notwendig." Boff sieht darin überflüssigen Ballast, der der Erde Stress verursacht. Es muss immer mehr konsumiert werden, es muss immer mehr produziert werden - ein perverser Teufelskreis, eine fatale Logik, denn dafür muss die Erde immer mehr ausgebeutet werden.
Boff fragt, ob die Erde "diesen totalen Krieg" aushalten kann, den die Menschheit erbarmungslos gegen sie führt. Kann sich überhaupt etwas ändern, solange die Staatengemeinschaft die multinationalen Konzerne nicht in den Griff bekommt? Solange korrupte Regierungen an der Ausbeutung der Erde mitverdienen? Solange die Regierungen der westlichen Welt ihren Wählerinnen und Wählern eine Senkung des Lebensstandards nicht zumuten wollen?
Politik und Wissenschaft werden nichts ändern
Man ahnt, dass es nicht reichen wird, Bäume zu pflanzen und gestrandete Wale wieder zurück ins Meer zu schieben. Was ist also zu tun? Boff bleibt schwammig: "Es ist dringend an der Zeit, uns des Desinteresses der Politiker und des fortgesetzten Wachstumskurses anzunehmen, der die knappen Ressourcen ausplündert." Nach Revolution klingt das nicht, eher nach einem Delegiertenvotum der Parteiversammlung der Linken. Doch von Politik und Wissenschaft erwartet Boff nichts. "Sie stehen unter der Kontrolle mächtiger wirtschaftlicher Interessen, die jeden Wandel ablehnen, so dringend er auch wäre. "Sie sorgen sich lediglich um Markt und Profite und nicht um das Leben oder die Erde." Lediglich eine "Koalition der Kräfte, die sich um unverzichtbare Werte formieren", könne uns einen Zukunftshorizont eröffnen.
Dass diese Vision Boffs Wirklichkeit werden kann, zeigte sich Ende Mai im erfolgreichen Protest gegen den US-Konzern Monsanto. Zwei Millionen Menschen gingen rund um den Globus gegen den Agrarmulti auf die Straße, auch in den bayerischen Großstädten. Mit großer Aggressivität versucht Monsanto, Patente auf Saatgut schützen zu lassen und gentechnisch veränderte Nahrungsmittel auf den Markt zu bringen, begleitet von einer intensiven Lobbyarbeit in der Politik und bei den Aufsichtsbehörden. Greenpeace wirft dem Unternehmen schon seit Jahren vor, nur ein Ziel zu verfolgen: "Es will die globale Landwirtschaft vollständig unter seine Kontrolle bringen."
Die Proteste waren scheinbar erfolgreich: Der Konzern hat jüngst angekündigt, in Europa keine Zulassung für den Anbau neuer gentechnisch veränderter Pflanzen mehr beantragen zu wollen. "Wir sind über die Jahre in Europa nicht weitergekommen", sagte eine Firmensprecherin. "Es ist kontraproduktiv, gegen Windmühlen zu kämpfen." Man wird sehen.
Ein anderes aktuelles Beispiel war der Versuch der Europäischen Union, die Wasserversorgung zu privatisieren. Mehr als 1,5 Millionen Menschen in der EU hatten daraufhin einen Aufruf gegen dieses Vorhaben unterzeichnet. Die EU-Kommission musste einlenken, sehr zum Verdruss der Wasserkonzerne, denen nun erst einmal langjährige, sichere Gewinne entgehen. Sie werden es aber vermutlich weiter versuchen.
Beide Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, dass bestimmte Gemeingüter allen Menschen zugänglich sein müssen: Wasser, saubere Luft, Saatgut. Was man unbedingt zum Leben braucht, muss auch Gemeingut bleiben.
Keine Zukunft ohne Achtsamkeit und Nachhaltigkeit
Hat die Erde noch eine Chance? Boff stellt fest, dass die Menschheit keine spirituellen Energien gesammelt hat, um die gegenwärtige Krise erfolgreich zu bestehen. Stattdessen habe sie eine der Erde gegenüber feindliche Zivilisation geschaffen. Das Ergebnis: die Entzauberung der Welt und der Verlust der Verbindung mit dem Ganzen. Boff sagt es in drastischen Worten: "Die Erde wird gekreuzigt, wir müssen sie vom Kreuz herabholen und wieder zum Leben erwecken." Das Paradigma der Eroberung müsse abgelöst werden durch das Paradigma der Achtsamkeit. Achtsamkeit und Nachhaltigkeit sind die beiden Säulen, auf denen Boffs neuer Zivilisationsentwurf basiert.
Unter Nachhaltigkeit versteht er den umsichtigen Umgang mit den knappen Ressourcen der Erde. Ein Umgang, der die Grenzen des Ökosystems respektiert. Unter Achtsamkeit versteht er eine liebe- und respektvolle, nicht aggressive und damit nicht zerstörerische Beziehung zur Wirklichkeit. Sie geht davon aus, dass die Menschen Teil der Natur und Glieder der Gemeinschaft des Lebens und des Kosmos sind, denen die Verantwortung zukommt, diese Gemeinschaft zu schützen, ihre Wiederherstellung zu gewährleisten und für sie zu sorgen. Die Achtsamkeit ist nach seiner Definition eher eine Kunst als eine Technik, ein neues Paradigma der Beziehung zur Natur, zur Erde und zu den Menschen.
Achtsamkeit ist die Alternative zur Aggression, sie ist das Gegenteil von Eroberung, sie ist die liebevolle Beziehung zu allem, was lebt und existiert. Achtsamkeit ist Boffs neuer kategorischer Imperativ. Er definiert ihn wie folgt: "Wenn du diesen schönen und kleinen Planeten, dein Zuhause als Mensch, retten willst, wenn du die Vielfalt der Lebensformen retten willst, wenn du die menschliche Zivilisation retten willst, wenn du dich selbst retten willst, dann beginne jetzt sofort damit, achtsam zu sein gegenüber allem und allen, denn ohne Achtsamkeit gibt es für niemanden Rettung."
Kosmische Spiritualität: Wir gehören zu denen, durch die das Universum denkt
Ganz im Sinn des Franziskus von Assisi fordert Boff, die Geschwister aus der Gemeinschaft des Lebens als solche anzuerkennen: die Sonne, Pflanzen und Tiere, Berge, Täler und Flüsse, unsere Heimat. Dann gilt es, eine gemeinschaftliche Verbundenheit zu diesen Geschwistern zu suchen. Eine "kosmische Spiritualität" mache uns empfänglich für ihre Botschaften: "Wir können die Stimme der Wälder, die Botschaft der Vögel, das Pfeifen des Windes, das Rauschen des Blätterwaldes, das Flüstern der Gewässer vernehmen", empfiehlt er. Wer sich darauf einlässt, dem verspricht der ehemalige Franziskaner "wunderbare Inspirationen und wohltuende Träume".
In der Kategorie der Achtsamkeit sieht Boff die "strukturierende Achse einer neuen Beziehung zur Natur". Er wird nicht müde, vor den Konsequenzen zu warnen, sollten Achtsamkeit und Nachhaltigkeit nicht die Oberhand gewinnen: Andernfalls sei der Weiterbestand des menschlichen Lebens auf dem Planeten gefährdet.
Warum der Mensch überleben sollte
An manchen Stellen des Buches fragt man sich, ob das für die Erde nicht die beste Lösung wäre - dass der zerstörerische Mensch von ihr verschwindet, dass bald Gras über dieses Missverständnis von Gottes Schöpfung wächst. Man ahnt jedoch, dass der Mensch auch die größten von ihm selbst verursachten Katastrophen überleben wird. Er ist ja nicht ähnlich wehrlos wie die Saurier, die keine Chance gegen die durch Meteoriteneinschläge verstaubte Luft hatten. Der Mensch hat genug Intelligenz, die Erde zugrunde zu richten, er hat auch genug Intelligenz, in Deckung zu gehen, wenn die Erde zurückschlägt. Und wahrscheinlich wird es so sein, dass nicht diejenigen überleben, die noch im Einklang mit der Natur leben, auch nicht die Armen, die wenig Ressourcen verbrauchen. Überleben werden Wohlhabende und Hochtechnisierte.
Boff benennt glücklicherweise Gründe, warum der Mensch überleben sollte, er preist "das Wunder des Daseins eines jeden menschlichen Individuums, der einzelnen Person" mit ihrem Bewusstsein, mit Liebesfähigkeit, Achtsamkeit, Kreativität, Solidarität, Mitgefühl und dem Gefühl der Zugehörigkeit zum umfassenden Ganzen. "Wir gehören zu denen, durch die das Universum denkt, sich seiner selbst bewusst wird und seine eigene herrliche Schönheit erkennt", schreibt er poetisch. "Wir sind Teil des Universums, das dazu gelangt ist, zu fühlen, zu denken, zu lieben, Sorge zu tragen und Ehrfurcht zu empfinden."
Wird die Menschheit die Kurve kriegen? Boff weiß es selbst nicht, aber er appelliert daran, die Hoffnung, den Traum, die Utopie niemals aufzugeben: "Das ist der Weg zur Zukunft."