Die Entscheidung fiel am Freitag: Das Landgericht Bremen hat den umstrittenen Pastor Olaf Latzel vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen. Völlig unabhängig von der Tatsache, dass ich die Einstellungen von Pastor Latzel als menschenunwürdig betrachte, stößt bei mir auch die Entscheidung des Landgerichts auf. Denn in der Frage, inwieweit die Richter eine differenzierte und ergebnisoffene Folgenabwägung durchgeführt haben, besteht doch Skepsis.
"Genderdreck" und "Verbrecher" durch Bibel legitimiert?
Letztendlich stehen zwei Rechtsgüter gegenüber: Die Meinungs- und Religionsfreiheit des anfangs Beschuldigten einerseits, der Schutz des gesellschaftlichen und sittlichen Friedens und die Wahrung bestimmter Bevölkerungsgruppen vor einer grundrechtswidrigen Herabwürdigung durch Hassaussagen andererseits.
Dass hier ein durchaus voreingenommener Gutachter Bericht erstattet hat, lässt sich an seiner zweifelhaften Aussage erkennen, wonach die Einlassungen des ursprünglich Beklagten in einem Ehe-Seminar zwar "zugespitzt" seien, die theologische Auslegung der Bibel jedoch am Ende durchaus eine Ideologie zulasse, welche Verlautbarungen wie "Genderdreck" oder "Verbrecher" als Zuschreibung gegenüber den Veranstaltern des Christopher-Street-Days legitimierten.
Kontextlose und platte Exegese der Heiligen Schrift
Schlussendlich steht fest: Man kann in einer buchstabengetreuen, kontextlosen und platten Exegese der Heiligen Schrift durchaus zum Ergebnis kommen, wonach dort Homosexualität und Diversität als Sünde betrachtet wird, die sogar mit dem Tod bestraft werden soll. Ob das Bundesverfassungsgericht allerdings, welches die Richter am Landgericht für ihre Argumentation heranzogen, mit seiner Grundsatzentscheidung zur Gewissensfreiheit sogleich für diesen ganz konkreten Fall unkritisch bemüht werden kann, halte ich für fraglich.
Denn das höchste Gericht hatte in seiner früheren Auffassung zwar eindeutig festgelegt, wonach im Zweifel für den Angeklagten davon ausgegangen werden muss, dass dessen eigene Denkweise und Weltanschauung zumindest zu respektieren ist, wenn sich diese als realistische Möglichkeit und zulässige Interpretation einer bestimmten Lehre oder Texte ansehen lässt. Allerdings bleibt - wie bei allen verfassungsrelevanten Fragen - die Gewichtung der Konsequenzen dem zuständigen Gericht anheimgestellt.
Auswirkungen auf sozialen Zusammenhalt nicht geprüft
Selbst wenn es zugunsten des anfänglich Beklagten wohlwollend davon ausgeht, dass dieser in seiner Gedankenwelt jegliche kritisch-historische Exegese der Bibel ablehnt und sich allein an einer verbalinspirierten, fundamentalistischen Auslegung der Schrift orientiert, haben die Richter nach meinem Verständnis im zugrunde liegenden Fall eben nicht hinlänglich geprüft, welche Auswirkung die Verbreitung dieser von Irrtumsfreiheit der christlichen Texte geprägten Auffassung von Pastor Latzel für den sozialen Zusammenhalt hat.
Immerhin sind die zweifellos beleidigenden Zuschreibungen nicht nur Ausdruck einer über die biblische Lesart hinausgehenden Verabscheuung von Menschen, sondern gleichsam auch dazu geeignet, aufzuwiegeln und anzustacheln und Personengruppen in ihrer Persönlichkeit herabzuwürdigen.
Eingeengte Sichtweise
Abgesehen also davon, wonach ich eine kanonisch-grammatische Exegese vertrete und deshalb zur Auffassung gelange, dass die Bibel weitaus weniger über Homosexualität an sich, aber auch über die Frage der christlichen Wertung gleichgeschlechtlich und pluralistisch gelebter Liebe kaum eine Aussage trifft, sehe ich etwaige Rechtsfehler in der Begründung des Landgerichts.
Für mich liefert die Heilige Schrift existenzialistische Orientierung und Wegweisung, die einer hinterfragenden und gleichsam anzweifelnden Überprüfung von Übersetzung und Auslegung standhalten muss. Latzels eingeengte Sichtweise überschreitet dagegen nicht nur die Grenzen guten Geschmacks und offenbart das Dasein in einer Parallelwelt. Viel eher ist sie für mein Dafürhalten keinesfalls mehr vom Grundgesetz gedeckt.