Seit fast drei Monaten herrscht Krieg in Gaza. Er sei Folge eines multipolaren Konflikts in Nahost, nicht nur zwischen Israel und Palästina, sagte der renommierte Politologe und Regensburger Professor für internationale Politik und transatlantische Beziehungen, Stephan Bierling, im Gespräch mit dem Sonntagsblatt. Als ausgewiesener Nahost-Spezialist denkt er über mögliche Friedensoptionen nach.

Seit fast drei Monaten herrscht Krieg im Nahen Osten. Wird es Israel gelingen, die palästinensische Terrororganisation Hamas entscheidend zu schwächen?

Stephan Bierling: Israel hat die Hamas schon deutlich geschwächt. Die Armeeführung gibt an, mittlerweile etwa 50 Prozent der vermuteten 15.000 Hamas-Terroristen ausgeschaltet zu haben. Aber nach wie vor sind sie zu Raketenabschüssen auf Israel fähig.

Wie lange wird der Krieg noch dauern, das heißt, wie lange hat Premier Netanjahu noch die Unterstützung der israelischen Bevölkerung für diesen Krieg?

Bierling: Das weiß niemand. Die israelische Regierung hat immer wieder Durchhalteparolen ausgegeben. Aber nachdem vor kurzem 16 israelische Soldaten getötet und versehentlich Geiseln erschossen wurden, wird die Unterstützung in Israel dünner. Es geht bei dem Krieg auch um Netanjahus politisches Überleben. Er weiß, sobald der Militäreinsatz zu Ende ist, wird die Debatte über sein eigenes Schicksal nach vorne rücken. Die überwiegende Mehrheit der Israelis hält ihn für einen Versager, der das Land nicht schützen konnte.

Warum ist der Konflikt gerade zum jetzigen Zeitpunkt ausgebrochen?

Bierling: Die Konfrontation zwischen Israel und Palästinensern ist ja nur ein Teil des Nahostkonflikts, der mehrere unterschiedliche Ebenen hat. Eine zweite wichtige Ebene ist, dass der Iran mit seinen Stellvertretern versucht, eine israelisch-arabische Annäherung zu verhindern. Diese war bis zum 7. Oktober auf einem guten Weg. Israel hat 2020 diplomatische Beziehungen mit Sudan, Bahrain, Marokko und den Vereinigten Arabischen Emiraten aufgenommen und damit die Garantie seines Existenzrechts bekommen. Es zeichnete sich sogar ab, dass Saudi-Arabien in nächster Zeit dasselbe tun wollte. Diese Zusammenarbeit hätte den Iran geschwächt, deshalb kam für ihn der Überfall der Hamas zeitlich sehr passend.

Welche Rolle spielen die Weltmächte, die in der Region auch noch präsent sind?

Bierling: Die Amerikaner haben seit 1973 für eine Stabilisierung der Region gesorgt. Seither gab es keinen zwischenstaatlichen Krieg mehr zwischen Israel und seinen Nachbarn. Washington hat auch Friedensverträge Israels mit Ägypten und Jordanien vermittelt und stand hinter der angesprochenen Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit mehreren arabischen Staaten 2020. Jetzt wo sich die Amerikaner mehr auf Ostasien und den Aufstieg Chinas konzentrieren, ist ein gewisses Vakuum im Mittleren Osten entstanden.

Die Amerikaner sind weiter an einer Eindämmung des Iran interessiert, aber Russland sabotiert dies. Es hat Assad 2015 im fast verlorenen Krieg gegen die Aufständischen gerettet, es arbeitet heute eng mit Teheran zusammen und importiert von dort enorme Mengen an Drohnen für seinen verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine. Und China kauft die Hälfte des iranischen Öls und sichert so die Einnahmen des despotischen Mullah-Regimes.

Warum wird eine Zweistaatenlösung den Konflikt nicht beilegen, wie es manche in Deutschland immer noch glauben?

Bierling: Die Zwei-Staaten-Lösung war ein diplomatisches Feigenblatt, an dem die UNO, die EU und die USA festhielten, obwohl es seit zwei Jahrzehnten keine Schritte dorthin mehr gab. Diese Lösung ist eigentlich seit den Nullerjahren vom Tisch, als die Israelis sahen, wohin sie führt. Aus den allein von den Palästinensern kontrollierten Gebieten im Westjordanland überzogen Selbstmordattentäter in der zweiten Intifada nach 2000 Israel mit Anschlägen und aus dem 2005 geräumten Gazastreifen heraus feuerte die Hamas ständig Raketen auf das Land. Das ist keine Geschäftsgrundlage für eine Zwei-Staaten-Lösung.

Die an Frieden interessierten Palästinenser verzweifeln gleichzeitig am aggressiven Siedlungsbau der Israelis im Westjordanland, weil er ihnen den Boden für ein Zugehen auf Jerusalem entzieht. Eine Tragödie des Mittleren Ostens ist es, dass die Hardliner sich gegenseitig brauchen, um innenpolitisch an der Macht zu bleiben.

Welche Perspektiven sehen Sie für eine Stabilisierung der Lage im Mittleren Osten?

Bierling: Im Moment sieht es alles hoffnungslos aus, weil es für keine Seite eine Exit-Strategie gibt. Die Hamas hat sich völlig verschätzt. Sie dachte, dass die größte Mordorgie an Juden seit der Shoah und die Massen-Geiselnahme den Konflikt eskalieren lassen würde. Sie hatte sich vor allem von der Hisbollah im Libanon und von Teheran Unterstützung erhofft. Die Hamas hat auch nicht erwartet, dass die Israelis mit solcher Macht im Gazastreifen eingreifen, und steht nun mit dem Rücken zur Wand.

Und wie sehen die Optionen für Israel aus?

Bierling: Auch für Israel gibt es keine guten Optionen. Die Hamas war politisch durchaus erfolgreich: Sie hat die Annäherung Israels an die arabische Welt zerstört. Sie hat offengelegt, wie katastrophal Netanjahu die Innenpolitik in den letzten Jahren instrumentalisiert hat, um sein politisches Überleben zu sichern. Sie hat gezeigt, wie stark der Einfluss der Rechtsextremen in der israelischen Regierung ist. Diese haben die Geheimdienst- und Militärkapazitäten des Landes aufs Westjordanland konzentriert, um die Siedler zu schützen, und dabei völlig den Gazastreifen außer Acht gelassen. Nur deshalb konnte sich die Hamas ein Jahr lang vorbereiten auf ihren Großangriff.

Beide Seiten haben keine guten Optionen, aus der Geschichte herauszukommen?

Bierling: Israelis und Palästinensern muss klar werden, dass der Weg, den sie bisher gegangen sind, nicht zum Ziel führt. Eine weitgehende Zerstörung der Hamas ist Voraussetzung, dass alles besser wird, aber auch eine Ablösung Netanjahus. Danach brauchen wir ein größeres Engagement der arabischen Welt, die bisher ein doppeltes Spiel spielt in dem Konflikt, eine weiterhin entschlossene amerikanische Führung und eine Isolierung des Iran.

Wie könnte diese neue Lösung aussehen?

Bierling: Da gibt es zwei vorstellbare Varianten. Die eine: Man könnte nach dem Krieg eine internationale Verwaltung für den Gazastreifen errichten. Da müssten die Araber, die sich sonst immer einen schlanken Fuß machen und nur Geld für die Hamas schicken, Teil einer dort zu stationierenden Sicherheits- und Verwaltungstruppe werden, am besten geführt von den Europäern - ähnlich etwa der amerikanischen Militäradministration in Südwestdeutschland von 1945 bis 1949.

Und die andere Variante?

Bierling: Man könnte den Gazastreifen und das Westjordanland an Jordanien anschließen, ein Großjordanien schaffen. Dafür gibt es gute Voraussetzungen: Es leben in Jordanien schon 80 Prozent Palästinenser. Zudem ist die Wirtschaftslage dort angespannt, weil sie nicht über Gas und Öl verfügen. Deshalb sind sie auf auswärtiges Geld angewiesen. Da könnten Saudi-Arabien und die reichen Golf-Scheichtümer ein Finanz-Paket für Jordanien schnüren dafür, dass sie den Gazastreifen und das Westjordanland übernehmen.

Damit könnten die Israelis leben, weil Jordanien schon vor 30 Jahren einen Friedensvertrag mit Israel abgeschlossen hat. Auch für die Amerikaner wäre das akzeptabel, weil sie auf Geheimdienstebene mit Jordanien eng zusammenarbeiten. Wer sich sträubt, ist König Abdullah von Jordanien. Die schmutzige Wahrheit des Mittleren Osten ist: Alle islamischen Staaten stellen sich rhetorisch hinter die Palästinenser, aber keiner will nur einem Palästinenser die vollen Bürgerrechte gewähren oder sie im Land haben.

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