Prophet*innen, so kennt man sie aus der Bibel, sind Menschen, die nicht schweigen können. Ihre Aufgabe ist es zu stören, aufzurütteln, zu irritieren, unbeirrbar auf Missstände hinweisen – und dafür nicht selten Ablehnung ernten. Sie sind Vermittler zwischen Gott und Menschen, immer mit dem Blick in die Zukunft gerichtet und wenn nötig bereit für den Kampf, um die von Gott aufgetragene gerechte Sache umzusetzen.

Greta Thunberg erfüllt fast alle diese Kriterien – bis auf das wichtigste. Von Gott spricht sie nie. Ihre Autorität speist sich aus Daten, nicht aus Offenbarung. In Klimafragen beruft sie sich auf die Wissenschaft, beim Nahostkonflikt auf die Menschenrechte. Seit dem Hamas-Angriff am 7. Oktober positioniert sie sich pro-palästinensisch, fordert Waffenstillstand, spricht von Genozid – und findet dafür scharfe Worte. Keine Spur von Gott oder Glaube. 

Warum wird sie dennoch als Prophetin bezeichnet?

Ihre jüngste Mission liefert Material für diese Frage. Gemeinsam mit elf Aktivist*innen, darunter die Deutsche Yasemin Acar, stach Thunberg vergangene Woche von Sizilien aus in See. Ziel: der Gazastreifen. Mit an Bord: Babynahrung und Medikamente. Das israelische Außenministerium wiegelte ab – die Güter seien so geringfügig, dass sie nicht einmal einer Lkw-Ladung entsprächen. Kurz vor Gaza stoppte die Armee das Boot. Acht Mitreisende sitzen weiterhin in Haft. Thunberg hingegen wurde – mit dem Flugzeug – zurückgeschickt.

Der Vorwurf Israels: reine Inszenierung. "Es gibt Wege, Hilfe in den Gazastreifen zu bringen – ohne Instagram-Selfies", kommentierte das Außenministerium. US-Präsident Donald Trump nannte die Gruppe "junge wütende Menschen" und empfahl einen Kurs in Wutbewältigung.

Doch gerade in dieser Wut liegt vielleicht das Prophetische. Ihre Unnachgiebigkeit, ihr Pathos, die Art, mit der sie Aufmerksamkeit erzwingt – all das hat sie schon zu Schulstreik-Zeiten zur Prophetin gemacht, zumindest im öffentlichen Diskurs. Auch Politikerinnen wie Katrin Göring-Eckardt sahen sie in dieser Rolle.

Die tagelange Fahrt über das östliche Mittelmeer verstärkt dieses Bild. Eine einsame Mission über die Wellen, getragen von einem größeren Ziel. Es wirkt archaisch, fast biblisch. 

Doch was bedeutet "prophetisch" in einer säkularen Zeit?

Martti Nissinen, Professor für Altes Testament in Helsinki und Experte für Prophetie, hält den Vergleich nicht für abwegig. Im Gespräch mit der "Zeit" nannte er Thunberg 2023 eine "prophetische Stimme" – und zugleich eine "Ikone".

Vielleicht liegt genau darin die Antwort: Thunberg erinnert an das Wesen biblischer Prophetie: eine in die Zukunft blickende Vision, getragen von moralischem Anspruch. Von Amos, dem Sozialpropheten, über Jesaja, der laut für Gerechtigkeit ruft, bis zu Jeremia, der unerschrockene Ankläger der Mächtigen – sie alle verband der Ruf zur Umkehr.

Wenn man Gott aus der Prophetie herausnimmt, bleibt womöglich: Aktivismus. Vielleicht ist es eine säkulare Fortsetzung des Prophetischen mit anderen Mitteln – getrieben nicht von Offenbarung, sondern von Erkenntnis, Moral, Fakten. Auch das kann visionär sein.

Und prophetisch – im eigentlichen Sinne – ist womöglich weniger ihre Wut als ihre Uneitelkeit. Ihr Blick richtet sich nie auf sich selbst, sondern auf das größere Ganze. Sie weicht nicht zurück, auch wenn der Gegenwind stark ist. Und stark wird er aller Voraussicht nach bleiben.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden

Klaus Straßburg am Don, 12.06.2025 - 15:06 Link

Die alttestamentlichen Propheten beriefen sich auf Offenbarungen Gottes, indem sie sagten: "So spricht der Herr: ..." Deshalb sollte man Greta Thunberg nicht Prophetin nennen - es sei denn, man will den Begriff in einem säkularen Sinn neu füllen.
Es gibt andere Titel für Thunberg, um ihre Leistung herauszustellen: Visionärin mag man sie nennen, Vorbild, säkulare Ikone oder auch geistbegabte Mahnerin. Denn nach Joel 3,1, zitiert in Apostelgeschichte 2,17, will Gott seinen Geist über ALLES Fleisch ausgießen, also nicht nur über die Glaubenden, und besonders u.a. über die "Söhne und Töchter", also über die Jugend, was in der patriarchalen Gesellschaft der damaligen Zeit geradezu eine Revolutin des Denkens darstellt.