Schon morgens, wenn ich mit dem Rad auf dem Weg zur Arbeit bin, sehe ich sie: Männer-Gruppen mit strammen Wadln, in kurzen Lederhosen und rotkarierten Hemden, noch etwas blass um die Nase vom Vorabend.
Frauen mit frisch frisierten Haaren und Lebkuchen-Ansteckern auf der Dirndlbluse, vergessene Helium-Folien-Ballons an Gartenzäunen, Kotze am Straßenrand.
Die Wiesn ist überall
Es gibt kein Entkommen. Ganz München befindet sich im Ausnahmezustand. Das wird mir jedes Jahr wieder am ersten Wiesn-Tag schmerzlich bewusst, wenn in meinem Social-Media-Feed Videos von sprintenden Menschen zu sehen sind, die seit fünf Uhr morgens an einem Bauzaun standen, nur um "gute Plätze" im Zelt zu bekommen.
Während ich also ganz normal meinem Alltag nachgehe, strömen die Massen zum Oktoberfest, um dieses irre hohe Kettenkarussell zu fahren, klebrige Zuckerwatte und Wurst in der Semmel zu essen oder sich bis in die Bewusstlosigkeit zu trinken.
Wiesn-Hass
Auf der langen Liste für meinen stetig wachsenden Wiesn-Hass stehen die Bagatellisierung und Normalisierung von Koma-Saufen, die Fotos von Frauenbeinen, die mit dem Handy unter Röcken aufgenommen werden, die Massen an Müll, die täglich auf der Wiesn anfallen (laut Tagesschau bis zu 10 Tonnen pro Tag!) und nicht zuletzt natürlich die Kotze, nicht nur am Straßenrand, sondern in eigentlich allen öffentlichen Verkehrsmitteln.
Wie können Menschen dieses absurde Spektakel noch genießen? Und wer gibt seinen Urlaub dafür her, um mit fremden Betrunkenen auf einer Bierbank zu "Atemlos" zu tanzen, während man sich dabei mindestens eine fiese Erkältung holt?
Wer glaubt, hier spricht eine Zugezogene, die nichts mit bayerischer Leitkultur anzufangen weiß, irrt. Denn obwohl mir Bier noch nie sonderlich gut geschmeckt hat, bin ich, aufgewachsen im Münchener Umland, als Jugendliche auf diversen Volksfesten gewesen und habe dort auch in Tracht zu Helene Fischer getanzt und gegrölt.
Aber die Wiesn? Die ist doch einfach zu doll, oder nicht?
Und dann doch: Die Angst, etwas zu verpassen
Das Schlimmste am Wiesn-Hass ist die Angst, doch etwas zu verpassen. Obwohl ich miesepetrig auf das Ende des größten Volksfests der Welt hinfiebere und es mir eigentlich sehr egal sein könnte, was auf dem Oktoberfest passiert, juckt es mich eben doch in den Fingern.
Denn anscheinend haben ja alle einen Riesenspaß auf der Wiesn, nur ich nicht. Also lasse ich mich dann doch jedes Jahr überreden, wenigstens einmal "drüberzulaufen" und Schoko-Früchte zu essen. Irgendwann muss ja auch das Dirndl mal ausgeführt werden.
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