Zum 50. Jahrestag des Olympia-Attentats von 1972 in München soll es erstmals einen umfassenden Erinnerungsort geben - und zwar in digitaler Form. Initiiert wurde er vom Landratsamt Fürstenfeldbruck, konzipiert von den für den Landkreis tätigen freiberuflichen Historikern Anna Greithanner und Dominik Aufleger. In der Stadt westlich von München fand in der Nacht auf den 6. September 1972 der misslungene Befreiungsversuch statt, bei dem nach einer Geiselnahme durch palästinensische Terroristen alle israelischen Geiseln und ein bayerischer Polizist ums Leben kamen. Projektleiterin Silke Seiz erläutert, warum es bis heute noch keinen authentischen Erinnerungsort gibt und weshalb die Bundeswehr bei dem Thema so eine wichtige Rolle spielt.
Frau Seiz, Sie sind federführend dafür zuständig, einen digitalen Erinnerungsort zum Olympia-Attentat vor 50 Jahren in Fürstenfeldbruck zu entwickeln. Was ist alles geplant?
Seiz: Der digitale Erinnerungsort basiert auf drei Säulen: einer Website, einer App und einer begleitenden Social-Media-Strategie. Die Website soll in vier Sprachen abrufbar sein - auf Deutsch, Englisch, Hebräisch und Arabisch - und richtet sich an ein internationales Publikum. Hauptzielgruppe sind für uns aber die jungen Leute, von daher die App und die Social-Media-Strategie. In den digitalen Erinnerungsort sollen nämlich nicht nur historische Dokumente, Videos, Interviews mit Zeitzeugen und Fotos einfließen, sondern auch Elemente von Augmented Reality (Erweiterte Realität).
Das bedeutet konkret?
Seiz: App-User sollen virtuell den Ort des missglückten Befreiungsversuchs begehen können. Sie können vor Ort auf dem Rollfeld oder am Tower das Geschehen etwa aus Sicht der Polizei oder Sanitäter nacherleben. Ebenso wird die Möglichkeit vorbereitet, dass die User die App von einem beliebigen Ort nutzen können und sich dabei so fühlen, als ob sie sich auf dem Gelände des Fliegerhorstes Fürstenfeldbruck befinden, obwohl sie eigentlich zu Hause auf der Couch sitzen. Ähnlich wie bei der App "Tag der Befreiung" der KZ Gedenkstätte Dachau, die ebenfalls einen Rundgang mit Augmented Reality-Elementen bietet. Und wir werben dafür, dass Lehrkräfte unser Angebot im Unterricht einsetzen. Terrorismus, der Nahost-Konflikt oder Gedenkarbeit sind schließlich Themen, die auch in den Schulen behandelt werden.
Kann man den Fliegerhorst denn auch "real" erleben, also hinfahren und sich alles anschauen? Dann würde man auch die nicht so technik-affinen Menschen mit einbeziehen...
Seiz: Das soll natürlich irgendwann dazukommen. Aktuell können wir einen "analogen" Erinnerungsort am Fliegerhorst jedenfalls nicht umsetzen, weil dort noch die Bundeswehr untergebracht ist. Das Gelände ist dementsprechend abgeriegelt, da kann man als Besucher nicht einfach reinspazieren. Unser Plan war daher, mit einem digitalen Erinnerungsort zu starten und diesen in den authentischen Ort zu integrieren, sobald er für die Öffentlichkeit zugänglich ist.
Und das wäre wann?
Seiz: Der Termin wurde die letzten Jahre immer wieder nach hinten verschoben. Wir hatten vor vielen Jahren gehofft, schon in diesem Jahr zum 50. Jahrestag einen Gedenkort am Fliegerhorst einrichten zu können. Aber Stand jetzt bleibt die Bundeswehr noch bis 2026 auf dem Gelände. Und auch dieses Datum dürfte angesichts des Ukraine-Krieges und der geplanten Stärkung der Bundeswehr vielleicht nochmal diskutiert werden. Von daher wollten wir auf Nummer Sicher gehen und haben gleich mit einem digitalen Erinnerungsort losgelegt.
Vor dem Eingang des Fliegerhorstes erinnert zumindest ein kleines Denkmal an die Opfer des Attentats...
Seiz: Genau. Dort finden auch die jährlichen Gedenkfeiern statt, die Landrat Thomas Karmasin Mitte der 1990er Jahre gestartet hat. Die werden gut angenommen, regelmäßig ist auch die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, zu Gast sowie die israelische Generalkonsulin. Und auch viele Bürgerinnen und Bürger aus Fürstenfeldbruck und Umgebung kommen regelmäßig.
Aber da tut sich schon die Frage auf, warum so spät mit einem Gedenken begonnen wurde. In München gibt es seit 1995 ein Denkmal im Olympiapark und seit 2017 einen größeren Gedenkort. Also Jahrzehnte nach dem Attentat... Haben Sie eine Erklärung?
Seiz: Das ist in der Tat eine sehr schwierige Frage. Ich möchte aber betonten, dass Landrat Karmasin das Gedenken seit Jahrzehnten hochhält. Dazu kommt: Die erste richtig große zentrale Gedenkfeier auf dem Gelände des Fliegerhorstes fand erst 2012 zum 40. Jahrestag statt. Da waren auch erstmals Überlebende und Angehörige anwesend. Aber warum ein institutionalisiertes Gedenken erst so spät kam - das kann ich nicht beantworten. Die große Gedenkveranstaltung zum 40. Jahrestag war jedenfalls mit ein Grund, bis 2022 einen umfassenden Erinnerungsort zu schaffen.
Wann soll der digitale Erinnerungsort denn offiziell an den Start gehen?
Seiz: Derzeit haben wir noch ein Online-Infoportal, das über die Erinnerungsarbeit des Landkreises und den entstehenden digitalen Erinnerungsort informiert. Das soll dann im September zum 50. Jahrestag durch die Website ersetzt werden. Dann soll auch die App nutzbar sein. Unsere Social-Media-Kanäle Facebook, Twitter, Instagram und Youtube werden voraussichtlich früher starten.
Social-Media-Strategie heißt ja auch, dass der Erinnerungsort weiter begleitet werden muss...
Seiz: Genau. Wenn alles offiziell gestartet und der digitale Erinnerungsort online gegangen ist, beginnt unsere mittel- und langfristige Arbeit. Wir wollen, wie gesagt, für unsere weitere Bildungsarbeit an die Schulen in der Umgebung herantreten, an Museen im und außerhalb des Landkreises, mit außerschulischen Medien- und Bildungsorganisationen kooperieren und vieles mehr. Oberstes Ziel dabei ist: Eine kontinuierliche Erinnerungsarbeit zu leisten, die zunächst digital und zukünftig kombiniert wird mit einer umfassenden Erinnerungsarbeit am Ort des Geschehens.
Terroranschlag bei den Olympischen Spielen 1972 in München
Am frühen Morgen des 5. Septembers 1972 nahmen Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation "Schwarzer September" elf israelische Athleten im olympischen Dorf in München als Geiseln. Damit wollten sie unter anderem die Freilassung von über 200 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen erzwingen sowie die der deutschen Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Außerdem forderten sie ein Flugzeug für ihre Flucht in ein arabisches Land.
Die deutschen Sicherheitsbehörden waren auf einen Terrorakt nicht vorbereitet. München sollte nach den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, die die Nationalsozialisten für ihre Propaganda nutzten, als Ort der "heiteren Spiele" in die Sportgeschichte eingehen. Die Sicherheitsvorkehrungen waren bewusst locker gehalten; Polizisten im Olympia-Park waren unbewaffnet und trugen hellblaue Trainingsanzüge statt Uniformen.
Dementsprechend unvorbereitet traf München die Geiselnahme: Erst am Nachmittag wurden die Spiele unterbrochen. Außerdem waren die Terroristen via Fernsehen immer über das Vorgehen der Polizei informiert - man hatte schlicht vergessen, ihnen den Strom abzustellen und der Presse allzu bereitwillig Auskunft gegeben über die nächsten Schritte.
Am Abend brachte der Bundesgrenzschutz die Palästinenser und die Geiseln schließlich zum Militärflugplatz im nahen Fürstenfeldbruck, wo das geforderte Flugzeug bereitgestellt wurde. Dort wollte die Polizei zugreifen, doch die Befreiungsaktion endete in einer Katastrophe. Alle elf Geiseln sowie ein Polizist und fünf Terroristen kamen bei der Geiselnahme ums Leben.
Die Spiele blieben zunächst für einen halben Tag unterbrochen. IOC-Präsident Avery Brundage ließ sie mit den umstrittenen Worten "The games must go on" schließlich fortsetzen.