Allein schon der Name "Aufmerksamkeitsnoppen" lässt aufhorchen. Hinter dem Begriff verstecken sich in den Fußboden eingelassene Kunststofferhebungen, die Menschen als Leitsystem dienen, die nicht mit dem Auge erkennen können, wo eine Treppenstufe beginnt.
Diese Noppen, ein Farbleitsystem mit kontrastreichen Farben oder stufenlose Übergänge zwischen den Räumen findet man überall im fünfstöckigen Gebäude am Egidienplatz in Nürnberg - dem Seelsorge- und Teilhabezentrum der Landeskirche.
Seelsorge- und Teilhabezentrum der evangelischen Landeskirche in Nürnberg
Für insgesamt 5,5 Millionen Euro ist das Gebäude von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) umgebaut worden und beherbergt Dienststellen für Seelsorge- und Inklusionsbedarf. "Wir haben in der Landeskirche kein einheitliches Inklusionskonzept", sind sich die Pfarrer Cornelia Wolf und Matthias Derer einig.
Das wussten die beiden landeskirchlichen Beauftragten für Gehörlosenseelsorge in Bayern zwar schon länger. So richtig aufgefallen sei ihnen das aber erst in den vergangenen Monaten, seit sie mit ihren Kollegen Rolf Hörndlein (Schwerhörigenseelsorge) und Gerald Kick (Blindenseelsorge) sowie deren Teams unter einem Dach arbeiten und ständig im Austausch sind.
"Während das Klimabewusstsein ja augenscheinlich in allen kirchlichen Bereichen Bayerns angekommen ist, haben wir bei Inklusion noch viel zu tun", erläutern.
Blickt man auf den engen Terminplan der Gruppen, die sich jede Woche in den Räumen des Erdgeschosses treffen, stellt man fest, wie vielfältig die Welt der Menschen mit Sinneseinschränkungen ist, die sich in ganz ökumenischer Tradition in dem Gebäude treffen.
Terminplan der Gruppen
"Bei uns ist jeder willkommen, gleich welcher Konfession", sagt Kick. Montags treffen sich die gehörlosen Senioren vormittags, am Nachmittag wird offenes Singen für Sehbehinderte und Blinde angeboten. Dann werden Liedhefte in fetter 18-Punkt-Schrift oder mit Brailleschrift ausgeteilt. Am Dienstag kommen Hörende, die Gebärdensprache lernen wollen oder Mehrfach-Gehandicapte zur praktischen Sozialberatung.
"Als Mensch mit Behinderung will man sich auf Augenhöhe begegnen, andererseits auch mal unter Seinesgleichen und nicht in der Minderzahl sein", sagt Kick.
Mittlerweile verstehen sich die Menschen, die den Weg an den Egidienplatz finden, nicht einfach als Schicksalsgemeinschaft, sondern als Kulturgemeinschaft.
Das Zentrum beherbergt ein eigenes Studio für Tonaufnahmen von Andachten oder anderen geistlichen Beiträgen für Radio und Netz sowie einen multifunktionalen Videoraum. Stolz ist Cornelia Wolf zudem, dass der Gebärdenchor des Hauses beim neuen Imagefilm "Bayern inklusiv" der Staatsregierung nebst Stars wie Veronica Ferres oder Luise Kinseher mitmischen durfte und die Gebärdensprachliche Gemeinde jetzt Dolmetscher für Regierung von Mittelfranken stellt.
"Hier ist er ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft"
Das Teilhabezentrum am Egidienplatz ist weder eine Klinik noch eine Beratungsstelle. "Es ist aber unsere christliche Haltung, mit der wir dem Menschen hier begegnen und ihn ansehen", sagt Cornelia Wolf. Das spüren vor allem die Mädchen und Jungen der Kindergruppen, die in kommunalen Einrichtungen vielleicht angenommen würden, doch aber immer Außenseiter blieben und dort einfach dabei sein können.
Das "Säckchen", das mancher Mensch mit Handicap eben auch mitbringe, dürfe er hier gerne eine Weile ablegen, erklärt Derrer. Er denkt an den Mann, der nicht sprechen kann und in seinem Dorf nur als "des Stummerla" bekannt ist: "Niemand wusste seinen echten Namen. Hier ist er ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft."
Beratung für Gemeinden
Die Dienststellenleitern geben ihre Erfahrungen weiter. Sie beraten Gemeinden, die in ihren Kirchen Induktionsschleifen anbringen, damit der Gottesdienst akustisch besser rüberkommt. "Oder man kann erklären, dass eine Rampe als Zugang zum Gemeindehaus zwar für den Rollstuhl- oder Rollatorfahrer ein Segen, für den Sehbehinderten wegen der plötzlichen Absenkung des Wegniveaus aber ein Fluch ist", meint Rolf Hörndlein.
Gerade kircheninterne Stellen berate man immer wieder gerne, wenn diese Inklusion bei sich besser umsetzen wollen. Es gehe dabei auch um Gelder für technische Hilfsmittel.
"Aber wir sehen eben nicht nur die Einzelmaßnahme, sondern den ganzen Menschen, für den sie ist", ergänzt Hörndlein.
Dass es für die Inklusion zwar viele Ansatzmöglichkeiten, aber wohl nie eine Rundumlösung gibt, hat das Quartett auch im eigenen Hause erfahren: am Beispiel des Fahrstuhls, in dem es einfach keine technisch umsetzbare Kameralösung gab, mit der sich die Insassen im Notfall bemerkbar machen können. Als Kompromiss habe man dann aber einfach Glastüren verwendet, sodass man sich jederzeit im Schacht sehen kann.
"Manchmal ist es auch ganz einfach", sagen die Seelsorger.
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