München (epd). "Experimentierklausel" heißt das Zauberinstrument, das die bayerische Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) am Dienstag in München der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Experimentieren will sie mit den Kindern, die eine Betreuung brauchen, weil ihre Eltern arbeiten gehen wollen oder müssen. Und für die es im Freistaat bisher leider weder genügend Plätze noch genügend Fachkräfte gibt.

Um diesen Notstand, der sich in den nächsten Jahren allen Prognosen zufolge noch verschärfen wird, kurzfristig abzufedern, rät das Sozialministerium Trägern von Kindertageseinrichtungen nun, die "Experimentierklausel" aus dem Bayerischen Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz (BayKiBiG) einzusetzen. Mit ihrer Hilfe sollen in einem befristeten Modellprojekt ab September kurzfristig mehr Kinder in den bayerischen Kitas untergebracht werden.

Die Klausel gibt gewisse Freiheiten, um in Einrichtungen zusätzliche Plätze zu schaffen, etwa im Bereich der Mini-Kitas. Auch sollen "Einstiegsgruppen" ermöglicht werden, in denen Kinder bis vier Jahre einen Platz bekommen können, bevor sie in eine reguläre Gruppe kommen; in diesen Gruppen sind laut Scharf Abstriche beim Bildungsauftrag erlaubt und keine Fachkräfte nötig. Außerdem kann die Großtagespflege künftig flexibler gestaltet werden: Hier können fortan 15 Kinder gleichzeitig betreut werden, solange eine pädagogische Fachkraft anwesend ist. Die Qualität der Betreuung soll nicht leiden, betonte Scharf.

Das stellen Kritiker infrage. Die Qualitätsstandards zu senken, sei ein Offenbarungseid der Staatsregierung, sagte die stellvertretende FDP-Landtagsfraktionschefin Julika Sandt: "Nach dem Motto 'Hauptsache die Kinder sind verräumt', wirft Ministerin Scharf lieber die Standards über Bord, statt endlich Geld in gute Fachkräfte zu investieren". Die CSU habe den Fachkräftemangel jahrelang ignoriert. Die neuen Notstands-Regelungen nun als "außergewöhnliche Gestaltungsmöglichkeiten" zu verkaufen, sei "der Gipfel des Zynismus". "Sauber, sicher, satt" dürfe im 21. Jahrhundert nicht der Anspruch an Kinderbetreuung sein: Jedes Kind müsse die Zuwendung und Förderung erhalten, die seine persönliche Entwicklung stärke.

Auch die bayerische Doppelspitze der Arbeiterwohlfahrt (AWO) wies auf dringenden Handlungsbedarf hin. Es brauche eine groß angelegte Fachkräfteoffensive, betonten Nicole Schley und Stefan Wolfshörndl am Dienstag. Nicht zuletzt, um den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschüler ab 2026 umzusetzen, brauche es mehr Aus- und Weiterbildungsplätze, kostenlose Weiterqualifizierung für Quereinsteiger und der Beruf müsse mit besserer Bezahlung, mehr Aufstiegsmöglichkeiten und attraktiveren Rahmenbedingungen aufgewertet werden.

Die Nachfrage nach Kinderbetreuung sei in den vergangenen Jahren enorm gestiegen und werde wohl, auch angesichts der aktuellen Krisen, "sehr stark weiter ansteigen", sagte Scharf: "Ich bin überzeugt, dass die Menschen wieder mehr arbeiten werden müssen." Daher wolle sie eine moderne Gesellschaftspolitik, die sich den Bedürfnissen der Familien - aber auch der Wirtschaft annehme. Der Freistaat habe sich bewegt, "jetzt sei auch an den Kommunen und Trägern, etwas zu tun", sagte Scharf. Denn klar sei: "Kinderbetreuung ist systemrelevant."

Nach Schätzungen des Sozialministeriums fehlten aktuell mindestens 19.000 Fachkräfte und 10.000 Ergänzungskräfte in den bayerischen Kitas. Diese Zahlen sind laut Scharf jedoch nicht mehr aktuell und würden derzeit neu erhoben. Laut AWO-Mitteilung brauche Bayern nach einer Prognose der Bertelsmann Stiftung bis 2030 45.600 zusätzliche Fachkräfte für frühkindliche Bildung.