Die Seiten des dicken, mehr als 250 Jahre alten kirchlichen Ehebuches sind vergilbt und fleckig. Mittig stehen in ordentlicher Handschrift Informationen zu den Paaren, die sich in St. Bartholomäus trauen ließen. An der Seite findet sich immer wieder der Hinweis "Russische Kolonisten". Die damalige russische Zarin Katharina die Große warb zu dieser Zeit aktiv deutsche Siedler für das Wolga-Gebiet an. "Sie hat ihnen kostenlosen Grund versprochen, langjährige Steuerbefreiung, Freiheit vom Militärdienst, Religionsfreiheit und Kulturautonomie. Das war für viele sehr attraktiv", weiß Kirchenarchivdirektorin Andrea Schwarz.
Voraussetzung für das Auswandern nach Russland war jedoch die Ehe, und so ließen sich viele junge Paare vor dem Aufbruch noch schnell in der Nähe des Sammelpunktes vor den Toren Nürnbergs vermählen. Immer mehr Deutsche siedelten sich an der Wolga an und gründeten kleine Dörfer. Anfang des 20. Jahrhunderts waren es ungefähr 500.000, von denen im Zweiten Weltkrieg die meisten zwangsumgesiedelt wurden.
"Ich zeige das Kirchenbuch öfters bei Veranstaltungen", erzählt Andrea Schwarz, "denn es berührt die heutigen Russlanddeutschen, die in Nürnberg sind, sehr stark". Für die Archivarin ist das einer der Gründe, warum sie ihren Beruf so spannend findet:
"Es geht zwar um Papier, meistens alte Schriften, aber es geht auch immer um Menschen und ihre Schicksale."
Schon früh war Archivarin Schwarz' großer Berufswunsch
Diese Neugier trieb Schwarz schon im Kindesalter auf den Friedhof, wo sie sich die Grabmedaillons der alten Bauern ansah: "Ich habe mir immer gedacht: Wenn ich groß bin, will ich was mit alten Sachen machen." Als sie in der Schulzeit erfuhr, dass es für ihren Plan sogar einen passenden Beruf gibt - den der Archivarin - stand ihr Ziel fest. Es folgten ein Hochschulstudium der Geschichte mit Promotionsabschluss in München und eine Ausbildung an der bayerischen Archivschule.
Seit 2004 betreut Andrea Schwarz als Direktorin das Landeskirchliche Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, eines der größten Kirchenarchive in Deutschland. Hinter den Mauern des vor neun Jahren fertiggestellten Neubaus in der Veilhofstraße liegen 18 laufende Kilometer archiviertes Schriftgut, wie Urkunden, Akten, Fotos, Pläne und Bücher. Dazu kommen fünf Kilometer Bücher in der Bibliothek.
Die Sebalduslegende ist ein besonderer Schatz
Ein besonders alter Schatz ist die Sebalduslegende aus dem 15. Jahrhundert. Sie schildert legendarisch das Leben des Sebaldus von Nürnberg. Das Besondere ist die Initiale am Anfang des Buches, auf der man den Heiligen sieht. Der aufwändig mit bunten Farben und Gold gestaltete Nürnberger Stadtpatron hält in einer Hand ein Modell der Sebalduskirche, in der anderen einen Pilgerstab und trägt einen Pilgerhut mit Muschel. Die Initiale ist im Gegensatz zum restlichen Buch sehr abgegriffen, "und das liebe ich so daran", schwärmt Andrea Schwarz.
Das Buch wurde am Sebaldustag im August in St. Sebald aufgelegt und die Gläubigen durften die Initiale berühren. Dadurch versuchten die Menschen, etwas vom Heil des Heiligen abzubekommen: "Das kann man abergläubisch finden, für uns ist das sehr fremd. Aber die Menschen haben wirklich geglaubt, sie bekommen dadurch einen Schutz für ihr Leben. Und die mittelalterlichen Menschen waren dieses Schutzes sehr bedürftig.
Für Schwarz ist die Geschichte eine lange Kette
Auch dieses Lieblingsstück zeigt die Archivarin gerne vor, denn damit "öffnet sich für mich ein Fenster ins Mittelalter. Ich habe das Gefühl, ich habe direkten Kontakt zu den Menschen". Letzten Endes seien das alles Vorfahren. Für Andrea Schwarz ist die Geschichte eine Kette,
"in der wir uns alle durch die Jahrhunderte die Hände reichen".
Fragt man sie nach den Schlüsselereignissen der vergangenen 18 Dienstjahre, beginnt die Direktorin zu strahlen: "Ein Highlight war natürlich die Einweihung des Neubaus mit unserem Landesbischof 2013." Ein Mammutprojekt, das nach jahrzehntelanger Vorarbeit umgesetzt werden konnte: "Wir haben ein schönes Haus, aber das ist nicht das Besondere daran. Sondern, dass wir unsere Wünsche äußern durften und jetzt in einem wunderbar funktionalen Gebäude arbeiten." Ein anderer Höhepunkt war die lange Luthernacht anlässlich des Reformationsjubiläums im Sommer 2017:
"Bei der Mitternachtsandacht hatten wir einige hundert Leute auf unserer Terrasse. Das war ein traumhafter Tag."
Ende März tritt Schwarz ihren Ruhestand an
Im Landeskirchlichen Archiv wird der Kette der Geschichte bald ein neues Glied hinzugefügt. Am 31. März geht Andrea Schwarz in den Ruhestand und übergibt die Leitung an ihre Nachfolgerin. Am 1. Juli wird die bisherige kommissarische Leiterin des Instituts für Stadtgeschichte in Frankfurt am Main, Alexandra Lutz, die Aufgabe übernehmen. Ihren Beruf, der immer auch Leidenschaft war, lässt die 65-jährige Schwarz nur schwer los: "Ich freue mich auf die freie Zeit, aber gleichzeitig gehe ich auch sehr ungern hier weg von dieser interessanten Arbeit und meinen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich total gern zusammengearbeitet habe."