"Die Welt um uns herum hieß Scarborough. Zu anderen Zeiten wurde die Gegend mal "Scarbirien" genannt, ein Brachland am Rand einer sich ausbreitenden Stadt," so beschreibt der kanadische Autor David Chariandy den Schauplatz seines neuesten Romans, der gerade ins Deutsche übersetzt wurde.

Schauplatz ist für Kriminalität und Gewalt bekannt

Seit 1983 gehört Scarborough zur kanadischen Metropole Toronto. Dort wachsen die Brüder Michael und Francis auf, nach Letzterem ist der Roman benannt. Der Vater ist abgehauen, die Mutter, eine Migrantin aus Trinidad, arbeitet hart. Meist hat sie mehrere Jobs, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Schweren Herzens lässt sie die Söhne oft allein. Allein in Scarborough, das für seine hohe Kriminalität und Gewalt bekannt ist. Über das die Medien nur berichten, wenn es zu Mord und Todschlag kommt.

"Einmal schaute ich morgens mit Francis in eine Zeitungsbox, um die Schlagzeile mit der letzten Schreckensnachricht zu lesen, und in der Scheibe gespiegelt sah ich unsere eigenen Gesichter",

schreibt Michael. Gesichter, von denen eines alsbald nicht mehr reflektiert wird. Michael, der jüngere der beiden Brüder, ist der Erzähler. Er ist schüchtern, manchmal tollpatschig. Und über beide Ohren in Aisha verliebt, mit der er in der Bibliothek flirtet, während sein Bruder von einer Karriere als DJ träumt, vom Rauskommen, von der Flucht aus Scarborough.

Ungleiche Brüder

Der Roman "Francis" erzählt die Geschichte des Erwachsenwerdens dieser ungleichen Brüder und von den Menschen, die sie umgeben:

"Unsere Nachbarn waren Mrs Chandrasekar und Mr. Chow, Pilar Fernandez und Clive 'Sonny' Barrington. Sie sprachen andere Sprachen, aßen anderes Essen, aber sie alle kamen aus der ein oder anderen Kolonie."

Francis passt auf den jüngeren Michael auf, hütet ihn, schützt ihn, doch gegen die Vorurteile, gegen die Perspektivlosigkeit, gegen die strukturelle Gewalt, ist auch er hilflos. So ist diese Erzählung auch die des Scheiterns eines jungen Idealisten, die Geschichte des Todes eines Unschuldigen, der irgendwann genug hat von Diskriminierung und Ausgrenzung. Der opponiert – und dafür mit dem Leben bezahlt. Wie, durch wen und warum genau, das bildet den Spannungsbogen dieses Romans.

Dabei mischt David Chariandy zwei Zeitebenen, die des Aufwachsens der beiden Teenager in den 1980er Jahren und die zehn Jahre nach Francis Tod, in der Mutter und Bruder immer noch nicht mit dem Verlust umzugehen wissen. In der erst die Jugendliebe Aisha bei einem spontanen Besuch die Lücke an- und ausspricht, die Clique des Verstorbenen ein letztes Mal einlädt und die Hinterbliebenen endlich zum Abschied bewegt.

Keine Anklage, keine Beschönigung

Der Autor klagt nicht an, beschönigt die Situation aber auch nicht. Vieles bleibt unausgesprochen, vieles ist universal, denn diese Schicksale gibt es auch in den Vororten von Berlin und Paris, Rio de Janeiro und New York. Mit zärtlicher und sanfter Stimme, spannend und bewegend zeichnet Chariandy das Leben der Migrant*innen, das er selbst kennengelernt hat.  Und bewegt seine Leser*innen.

Chariandy wuchs in den 1970er Jahren in Scarborough auf als Sohn einer Trinidaderin, die nach Kanada kam, um dem kargen Leben zu entfliehen. Heute lebt der Autor im kanadischen Vancouver und unterrichtet Literatur an der Simon Fraser University. "Francis", im Englischen "Brother" betitelt, wurde vielfach ausgezeichnet. Im Jahr 2006 gründete Chariandy den ersten afrokanadischen Verlag unter dem Namen "Commodore Books", drei Romane von ihm sind ins Deutsche übersetzt worden.

Francis

David Chariandy

Francis und Michael sind Brüder, Söhne von Einwanderern aus Trinidad. Sie werden am Stadtrand von Toronto groß, wo Straßenlärm und Polizeisirenen den Soundtrack ihrer Jugend bilden. Während ihre Mutter sich von Job zu Job hangelt, passt Francis auf den jüngeren Michael auf und bringt ihm bei, was es braucht, um in ihrer Welt zu bestehen. Francis träumt davon, mit seinem Freund Jelly im Hip-Hop groß rauszukommen, während Michael nur an Aisha denkt, das klügste Mädchen des Viertels. In einer schwülen Sommernacht kommt es zu einer Schießerei, die die Träume beider Brüder gewaltsam beendet.

Verlag: Claassen-Verlag

ISBN: 978-3546100168

Seitenzahl: 192 Seiten

Preis: 20,00 €

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