Und die letzte Beerdigung ist geschafft. Die letzte an diesem Tag, für diese Woche - und tatsächlich auch auf dieser Stelle. Hinter mir liegt ein halbes Jahr, in dem ich als "Springerin" in einer Kirchengemeinde ausgeholfen habe. Gottesdienste am Sonntag, Taufen, Beerdigungen und zwischendurch ein Wasserschaden, ein kaputtes Kirchendach - der ganz normale Alltag eben.
Ich hatte am Anfang vor allem die Sorge, dass ich es nicht schaffen würde, mit den Menschen dort ins Gespräch zu kommen, sie ein bisschen kennenzulernen - und das ist doch irgendwie das Wichtigste in einer Kirchengemeinde: Wissen, wie es den Leuten geht, was sie brauchen. Wessen Frau krank geworden ist, wer gerne wieder mal das Meer sehen würde, wo eine Firma Stellen abbaut, dieses ganze Panorama eben. Es sind dann immer nur Bildausschnitte, aber es sind Einblicke in das Leben, wie es grade ist.
Ich bin schrecklich neugierig auf andere Menschen und Leben, auf fremde Wohnzimmer und Hauseingänge und das passt dann irgendwie ganz gut zusammen. Und auch in diesem halben Jahr hab ich viele Geschichten und Bilder gesehen und gehört. Und war zwischendurch ehrlich gesagt ganz schön erschöpft davon. Ein paar Worte und Erzählungen sind tief in mich reingekrochen, andere haben mich zurückschrecken lassen. In der Ausbildung zur Pfarrerin lernt man, wie man mit sowas umgeht. Aber eine Sache hab ich nicht beigebracht bekommen und sie gehört, das glaube ich inzwischen, in diesen kleinen, feinen Zwischenraum zwischen Arbeit und Privatleben, den es auch für Pfarrer*innen gibt: Dass wir Heilige brauchen.
Es sind die Menschen, die Du besuchst, weil Du gehört hast, dass sie irgendwie eine wichtige Rolle für eine Gemeinde spielen, die Gründe hast Du Dir nicht so genau gemerkt, aber Du gehst natürlich hin. Und erst wenn Du dann wieder nach Hause gehst, weißt Du, was an ihnen denn so besonders ist.
In meiner letzten Gemeinde war das Frau S. Sie lebt in einer gemütlichen, mit Büchern vollgestellten Wohnung. Sie legt Servietten unter die Tassen, den Kaffee serviert sie aus einer kleinen Kanne zum Runterdrücken. Nach dieser letzten Beerdigung, der letzten des Tages, der Woche und des letzten halben Jahres, gehe ich zu ihr. Ich rufe vorher kurz an, sie ist schon über 90, vielleicht braucht sie einen Moment. Und dann sitze ich an ihrem kleinen Tisch, meine Füße werden langsam wieder warm und der Rest auch. Sie erzählt ein bisschen, fragt ein wenig. Etwas, was ich schon weiß, anderes, was ich schon mal erwähnt habe.
Sie bedrängt mich nicht mit Keksen und nicht mit Belehrungen. Sie streichelt meine Seele, nur weil sie da ist. An diesem Nachmittag sorgt sie sich um meine Seele, sie ist meine Seelsorgerin, nicht ich bin es. Sie ist alt und lebensklug, sie hat so viel gesehen und gespürt in ihrem Leben. Mehr als in den Büchern in ihren Schränken steht und mehr als sie mir erzählen wird. Dank Frau S. verstehe ich mehr und mehr, was ein Vorbild ist, das keines sein will.
Ich hatte nie ein Vorbild in meinem Leben, schon gar nicht in beruflichen Fragen. Irgendwie müssen Vorbilder ja ein bisschen weiter weg sein als Mamas und Omas und ein bisschen näher als Rosa Luxemburg und Sophie Scholl, finde ich. Und ich glaube, mir fiel es nicht zuletzt deswegen schwer, ein Vorbild zu haben, weil ich weder einen festen Lebensentwurf, noch ein bestimmtes Ziel hatte. Glücklich sein, das fand ich gut, aber auch das war schwer zu füllen.
Vorbilder und Frauen
Seit ich wegen meines Berufs mit so vielen Menschen reden und ungestraft neugierige Fragen stellen darf, wird es für mich leichter, ein Vorbild zu haben - oder eher: Es fällt mir leichter, mein Leben in all sein Farben so sein zu lassen, wie es ist, ohne eine feste Schablone darauflegen zu müssen. Weil es Menschen gibt, die mir das zeigen. Frau S. Ist eine von den Frauen, die mir das beigebracht haben. Eine von meinen Heiligen, meinen heiligen Frauen.
Da war Stefanie, die so schöne Tücher getragen hat und gestorben ist, kurz nachdem wir zusammen noch Zwetschgendatschi in meiner neuen Wohnung gegessen haben. Da war Frau M., sie hatte jahrelang ihren Mann gepflegt, malte Bilder, sie flog regelmäßig zu ihren Enkeln nach Kanada, ihre Augen blitzten, wenn sie mir die Tür aufmachte. Ihr aller Glaube lehrte mich. Weil er so selbstverständlich war, dass er nicht der Rede wert war und trotzdem nicht auseinanderbrach.
Die heiligen Frauen meines Lebens waren alle auf einmal da, ohne dass ich nach ihnen gesucht hätte. Sie haben Geheimnisse, von denen sie mir beiläufig erzählten - und ich erzählte ihnen von meinen, ohne dass wir uns gegenseitig an unsere Verschwiegenheit hätten erinnern müssen.
Ich kenne mich nicht so gut mit biblischen Frauenfiguren aus, würde mich jemand nach einem biblischen Frauen-Vorbild fragen, ich müsste passen. Da sind Sara und Naomi und Maria, Eva, Elisabeth, Martha, Hanna und Rahab und wahrscheinlich würden sie und ihre Geschichten sich sogar sehr gut als Lebensbilder eignen. Aber ich glaube, bei mir ist es andersherum: Ich verstehe sie erst, seit ich Stefanie kennengelernt habe und Frau S. und Frau M. Ich denke an ihren Schmerz, als sie ihre Kinder verloren haben oder ihr Zuhause. Und denke dann an Maria und Hanna und Naomi, die schon vor ihnen da waren.
Freundinnen und heilige Frauen
Auch an meine Freundin C. denke ich oft noch. Ich hab es nicht geschafft, den Kontakt zu ihr aufrecht zu erhalten. Und bei "aufrecht" muss ich lächeln, denn sie ist sehr schief, meine Freundin C. Sie ist nicht so alt wie sie durch ihre Krankheit aussieht, wahrscheinlich ist sie jünger als ich, obwohl sie schon über 70 ist. Sie kann Kirschkerne spucken und singen und strahlen. Sie kann lieben und mir Mut machen. Sie fehlt mir.
Und doch hab ich so viel Vertrauen ins Leben bekommen durch sie und meine anderen heiligen Frauen, dass ich weiß: Es ist ok. Unser Leben ist nicht glatt und streifenfrei. Wir werden an den Menschen scheitern und oft auch an uns selbst. Nicht alle unsere tiefen Wünsche werden irgendwann wahr sein.
Wir werden so viel lieben und versuchen, wie wir können. Als Frauen, als die, die wir sein sollen aber mehr noch als die, die wir eben sein können. Ich spüre eine Verbundenheit zu den heiligen Frauen meines Lebens, die ich nicht erklären kann. Sie gründet nicht in den Gemeinsamkeiten unserer Biografien, sondern vielleicht noch am ehesten in dem Mut, uns einander zu öffnen.
Es fühlt sich zärtlich an und stark, selbstverständlich und außergewöhnlich zugleich. Ich verliere mich ein bisschen in ihnen, meinen heiligen Frauen, aber mehr noch finde ich mich in ihnen wieder.
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