Geldbeutel oder Herkunft der Eltern dürfen keine Rolle spielen: Seit 50 Jahren macht sich der Bayerische Elternverband (BEV) dafür stark, dass alle Kinder gleiche Bildungschancen erhalten. Wie sich kindliche Förderung von heute und damals unterscheidet, was die Zuwanderung mit Schulen macht und warum sich Kinder wieder mehr langweilen müssen, verrät Henrike Paede, stellvertretende BEV-Landesvorsitzende, anlässlich des Jubiläums im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Baby-Yoga, zweisprachige Kita, Freizeitstress voller Musik- und Sportkurse: Die Förderung von Kindern kann heute nicht früh genug starten. Ist das ein Unding unserer Zeit oder trägt es zur kindlichen Bildung bei?
Paede: Hier sprechen Sie ein echtes Problem an. Vielen Kindern fehlt heute der Raum, sich vermeintlich sinn- und zweckfrei zu beschäftigen. Dies ist aber notwendig, damit sie sich kennenlernen, erproben und Vertrauen in ihre Autonomie entwickeln. Zu viel ist gesteuert von Eltern und Pädagogen, die nur das Beste wollen - und die Kinder ständig fördern, fordern und überwachen.
Also empfehlen Sie wieder mehr Langeweile für Kinder?
Paede: Ich würde sagen: mehr Freiraum. Kinder müssen auch sich selbst überlassen sein - um den Preis zeitweiser Langeweile. Es kann nicht sein, dass sie die meiste Zeit fremdgesteuert unterwegs sind. Sie müssen Eigenständigkeit lernen und erproben: Was fange ich mit mir an? Wer bin ich und was will ich, wenn mich niemand zu etwas anhält?
Früher wurde übrigens der Kita bei weitem nicht die Bedeutung beigemessen wie heute. Heute gilt Bildung als umso bedeutender, je jünger die Kinder sind. Kita ist nicht mehr bloße Kinderbetreuung, sondern frühkindliche Bildung.
Der BEV begleitet Familien seit einem halben Jahrhundert. Was hat sich beim Thema Bildung seit 1968 am meisten verändert?
Paede: Heute sind häufig beide Elternteile berufstätig. Alleinerziehende sind mehr geworden, die Großfamilie ist als Unterstützung weggebrochen. Dadurch hat die Ganztagsschule einen neuen Stellenwert bekommen. Dies begleiten wir kritisch.
Inwiefern?
Paede: Sie ist ein wunderbares Modell insbesondere für Kinder, deren Eltern ihnen mangels Zeit und Geld wenig bieten können. Allerdings sehen wir nicht gern, wenn Kinder dort unter sich bleiben und eine Art "sozialer Auslese" repräsentieren. Dass die Ganztagsschule Freizeit raubt, sehen wir nicht: Sie sollen ja auch dort Angebote vielfältiger Art wahrnehmen und ihren Interessen nachgehen können. Wir sehen sie als tolle Fördermöglichkeit. Dabei bleibt aber ebenfalls zu beachten, dass Kinder auch Zeit brauchen, um sich ziel- und zweckfrei selbst zu beschäftigen. Idealerweise geht die Ganztagsschule auf dieses Bedürfnis ein und lässt gewissen Freiraum.
Die Übertrittsquote aufs Gymnasium ist den vergangenen Jahren stark gestiegen. Wie haben sich die Anforderungen beim Thema Schulartwahl verändert?
Paede: Früher war der Leistungsdruck fraglos nicht so groß. Heute lassen nur wenige Eltern die höchstmögliche Schulart links liegen. Manchmal ist Akademikereltern schwierig zu vermitteln, dass ihre Kinder in der Mittelschule eine Alternative finden, wenn sich die mit dem Pauken schwer tun. Die Mittelschule leistet in Bayern gute pädagogische Arbeit - dennoch wird sie als Abstieg betrachtet. Aber auch andersrum heißt es aufpassen: Eltern mit geringer eigener Bildung streben für ihre Kinder eher selten eine höhere Bildung an. Das bedeutet, dass die unter Umständen ihre Potenziale nicht ausschöpfen, wenn Lehrer nicht entsprechende Beratung leisten. Spannend: Während deutsche Eltern mit geringerer Bildung für ihre Kinder selten eine höhere Schule anstreben, suchen Zuwanderer aus niedrigen sozialen Schichten für sie häufiger den Aufstieg.
Wie wirkt sich die gestiegene Zahl von Zuwanderern auf die Schulen aus?
Paede: Im letzten IQB-Bildungstrend hat Deutschland an der Spitze schlechter abgeschnitten als zuvor. Ich möchte nicht darüber spekulieren, ob dies auf die Zuwanderungswelle zurückzuführen ist. Tatsache ist, dass die Schulen gewaltige Herausforderungen mit der Zuwanderung haben, wenngleich verkannt wird, dass der größte Teil nicht aus arabischen oder afrikanischen Ländern, sondern aus der EU kommt. Die Welle der anfänglich vor allem aus Syrien Hereingeströmten hat allerdings ein Bewusstsein für die damit verbundenen Probleme geschaffen.
Vor allem Grund- Mittel,- Förder- und Berufsschulen kämpfen mit Lehrermangel. Das hat natürlich mit der Mehrung der Schüler zu tun - und somit auch mit der Zuwanderung. Aber das Kultusministerium hat auch den Teil der Bevölkerungsentwicklung innerhalb Bayerns, der kalkulierbar war, nicht richtig wahrgenommen. "Den Lehrermangel hätten wir auch ohne Zuwanderung", sagte jüngst ein Abteilungsleiter aus dem Kultusministerium. Der BEV fordert mehr Lehrer, gleiche Bezahlung und eine veränderte Ausbildung, die flexibler einsetzbar macht.
Seit 50 Jahren macht sich der BEV dafür stark, dass alle Kinder gleiche Bildungschancen erhalten. Wie sieht diese Arbeit konkret aus?
Paede: Das ist vor allem politische Arbeit. Wir mahnen immer wieder im Ministerium Bildungsgerechtigkeit an und weisen auf Schwachstellen in Schulvorschriften und in der Schulpraxis hin. Das ist mitunter eine jahrelange und zähe Arbeit. Eine große aktuelle Baustelle ist dabei das Thema Inklusion.
Inwiefern?
Paede: Sie wurde zwar 2011 ins Schulgesetz aufgenommen, ihre Umsetzung ist jedoch noch in den Kinderschuhen. Die Aufgabe, mit unterschiedlichen Kindern unterschiedlich umgehen zu müssen, wurde lange Zeit mit der Vorstellung weggedrückt, man müsse nur die Kinder auf verschiedene, angeblich "begabungsgerechte" Schularten verteilen, dann sei jedes Kind schon am rechten Platz. Letztlich hat die Inklusion mit dieser Vorstellung aufgeräumt, sodass nun auch Kinder ohne das Etikett "Behinderung" nicht alle gleich ticken müssen. Aber dieser Prozess entwickelt sich in Bayern nur sehr langsam, vor allem in den weiterführenden Schulen.
Sie bringen demnächst ein kritisches Papier zum Thema Demokratieerziehung heraus. Worum geht es Ihnen dabei?
Paede: Lernen geht am besten "by doing", dies trifft auch auf Demokratie zu. Die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten von Schülern sind in der Schule marginal. Das allermeiste wird über ihren Kopf hinweg entschieden. Das muss sich ändern. Aber auch die Lehrpläne zur Vermittlung des notwendigen staatsbürgerlichen Wissens haben wir uns kritisch angesehen. Unseres Erachtens wird bei der politischen Bildung der fächerübergreifende Unterricht überschätzt. Das Kernfach Sozialkunde ist dagegen zeitlich bei weitem zu schwach bestückt.
In diesem Jahr feiert der BEV sein 50-jähriges Bestehen. Gibt's dazu besondere Veranstaltungen?
Paede: Unsere Jubiläumsfeier am 21. April in Landshut steht ganz im Zeichen von Demokratie in Verbindung mit Schule. Neben einem Festvortrag durch Professor Ursula Münch von der Politischen Akademie Tutzing und einer Podiumsdiskussion findet auch die Endausscheidung unseres Schülerwettbewerbs "Gesucht: Demokratie im Alltag" am Festtag statt.
Der Bayerische Elternverband
Der Bayerische Elternverband (BEV) mit Sitz in Lauf wurde 1968 gegründet. Seit einem halben Jahrhundert setzt er sich dafür ein, dass alle Kinder im Freistaat die gleichen Bildungschancen erhalten - unabhängig vom Geldbeutel oder der Herkunft ihrer Eltern. Um dieses Ziel zu erreichen arbeitet der BEV auf zwei Ebenen: bildungspolitisch auf Landesebene und praktisch unterstützend vor Ort.
Die politische Arbeit nimmt einen großen Teil ein: "Wir mahnen immer wieder im Ministerium Bildungsgerechtigkeit an und weisen auf konkrete Schwachstellen in Schulvorschriften und in der Schulpraxis hin. Das ist mitunter eine jahrelange und zähe Arbeit", erklärte die stellvertretende BEV-Landesvorsitzende Henrike Paede im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Außerdem arbeitet der BEV mit Informationen für die Presse, Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben und Petitionen.
Das Themenspektrum des BEV liegt vor allem auf dem Bereich schulische Bildung. Aktuell beschäftigen den Elternverband hier zum Beispiel die Baustellen Inklusion, Ganztagesschulen und das Thema Demokratieerziehung. So steht auch die Jubiläumsfeier am 21. April in Landshut mit einem Festvortrag von Professor Ursula Münch von der Politischen Akademie Tutzing und einer Podiumsdiskussion im Zeichen von Demokratie in Verbindung mit Schule.